Die Böe verschwand so schnell, wie sie gekommen war. Als Kim die Hände wieder herunternahm, waren Sturms Eltern verschwunden.
»Das war ziemlich tapfer von dir«, sagte Kim.
Sturm deutete ein verlegenes Achselzucken an und die Spinne sagte in keifendem Ton: »Das war unbeschreiblich dämlich! Kannst du mir sagen, was er uns nutzen soll ohne seine Kräfte? Selbst mit ihnen war er bisher keine besondere Hilfe. Kannst du dir vorstellen, was für ein Klotz am Bein er ohne sie ist?«
Sturm fuhr unter diesen Worten sichtbar zusammen und Kim warf der Spinne einen bösen Blick zu und sagte: »Nimm sie nicht ernst! Sie meint es nicht so.«
»Und ob ich es so meine!«
Kim wollte auffahren, aber Sturm hob rasch die Hand und schüttelte den Kopf. »Sie hat ja Recht«, sagte er. »Bisher habe ich mehr Schaden als Nutzen verursacht, und nun, ohne meine Kräfte ...« Er hob die Schultern. »Aber etwas gibt es noch, was ich vielleicht für euch tun kann.«
»Was?«, fragte Kim.
»Willst du immer noch die Zauberkugel zu Themistokles zurückbringen?«, fragte Sturm.
»Natürlich.«
»Dann zeige ich euch, wo ich sie verloren habe«, sagte Sturm. »Es ist nicht einmal sehr weit von hier. Ein Tag mit einem schnellen Pferd. Drei oder vier zu Fuß.«
»Bis zum Ende der Welt?« Kim schüttelte den Kopf. »Du musst dich täuschen. Ich war schon einmal dort. Es liegt in der anderen Richtung. Viele, viele Tagesreisen entfernt.«
»Dann muss es wohl ein anderes Ende der Welt sein als das, von dem ich rede«, beharrte Sturm und deutete über die Ebene nach Westen. »Es liegt dort. Ich kann euch hinführen.«
»Auf jeden Fall solltest du uns von hier wegführen«, sagte die Spinne. »Im Moment haben die Zwerge wahrscheinlich alle Hände voll zu tun, aber sobald sie die größten Trümmer zur Seite geräumt haben, tauchen sie garantiert hier auf.«
Natürlich hatte die Spinne damit Recht, aber Kim glaubte nicht, dass sie so schnell hier auftauchen würden. Er hatte das unheimliche Dröhnen und Bersten, das aus der Tiefe heraussprang, nicht vergessen. Ein großer Teil der Zwergenhöhlen musste zusammengebrochen sein. Trotzdem war es besser, wenn sie auf der Hut blieben.
Sein Blick tastete misstrauisch in die Runde, aber er sah keine Zwerge mehr - mit Ausnahme des einen, den der Pack noch immer mit der linken Hand festhielt um ihn mit der anderen Hand zu ohrfeigen.
»Pack, lass ihn los!«, sagte er scharf.
Der Pack ließ den Zwerg nicht los, hörte aber wenigstens auf, ihn zu ohrfeigen. Einen Moment lang wirkte er ziemlich unentschlossen - dann hielt er Kim mit einer Hand den Zwerg hin, machte mit der anderen eine eindeutige Geste und gab kleine, bettelnde Laute von sich.
»Nein«, sagte Kim kopfschüttelnd. »Du kannst ihn nicht mitnehmen.«
Der Pack wimmerte geradezu herzzerreißend, aber Kim blieb hart. »Bitte, lass ihn los«, sagte er.
»Du kannst dir ja einen anderen fangen«, unkte die Spinne. »Wir werden bestimmt noch vielen begegnen. Mehr, als uns lieb ist!«
Der Pack sah Kim noch einmal bittend an, aber Kim blieb bei seinem Kopfschütteln und schließlich setzte der Pack den Zwerg grob zu Boden - wenn auch nicht ohne ihm vorher noch eine kräftige Kopfnuss verpasst zu haben.
Der Zwerg taumelte kraftlos und wäre gestürzt, hätte Kim ihn nicht aufgefangen.
»Verstehst du mich?«, fragte Kim.
Er bekam nicht sofort eine Antwort. Der Zwerg war nur noch halb bei Bewusstsein. Erst als Kim ihn ein paar Mal schüttelte, öffnete er mühsam die Augen und sagte: »Nicht mehr schlagen!«
»Das habe ich auch nicht vor«, sagte Kim. »Aber ich gebe dich an den Pack zurück, wenn du nicht tust, was ich von dir verlange. Hast du das verstanden?«
Der Zwerg nickte wortlos. In seinen Augen flackerte die nackte Panik.
»Gut«, sagte Kim. »Dann hör mir zu: Du wirst jetzt zu deinem König oder Häuptling oder wie auch immer ihr euren Anführer nennt, zurückgehen und ihm erzählen, was hier passiert ist. Und du wirst ihm sagen, dass das nur ein kleiner Vorgeschmack auf das war, was passiert, wenn ihr uns noch einmal in die Quere kommt! Hast du das verstanden? Wenn ihr uns verfolgt, uns angreift oder eine Falle stellt oder wir auch nur den Schatten eines Zwerges sehen, dann bekommt ihr gewaltigen Ärger. Noch einmal kommt ihr nicht so glimpflich davon!«
Er ließ los. Der Zwerg taumelte, drohte zu stürzen und fand im letzten Moment sein Gleichgewicht wieder. Zuerst langsam und heftig torkelnd, dann immer schneller werdend entfernte er sich und war plötzlich zwischen den Felsen verschwunden. »Glaubst du, dass das eine gute Idee war?«, fragte Sturm.
Kim hob die Schultern. »Was sollte ich tun? Ihn umbringen?« Er schüttelte den Kopf. »Kommt. Verschwinden wir von hier.«
Den ganzen Tag über marschierten sie in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren. Eine sehr niedergeschlagene, trübe Stimmung hatte von der kleinen Gruppe Besitz ergriffen. Die meiste Zeit liefen sie schweigend nebeneinander her und jeder hing seinen eigenen düsteren Gedanken nach. Kim, Sturm und die Spinne bildeten eine kleine Gruppe, die dichter beieinander blieb, als nötig war, fast als suchten sie wie zur Antwort auf die unendliche Weite der Felsebene ringsum nun umso mehr die Nähe der anderen. Twix flog dann und wann ein Stück voraus um das Gelände zu erkunden und nach eventuellen Fallen und Hinterhalten Ausschau zu halten und der Pack, der noch immer beleidigt war, dass er sein Spielzeug nicht hatte mitnehmen dürfen, trottete ein gutes Stück hinter ihnen her.
Da sie durch die unheimliche Zeitverschiebung im Reich der Zwerge einen unnatürlich langen Tag hinter sich hatten, machten sie mit dem ersten Anzeichen der Dämmerung Halt. Der Pack verschwand, um sich auf die Suche nach etwas Essbarem zu machen, kam aber nach einer halben Stunde mit leeren Händen zurück, sodass sie an diesem Abend mit knurrenden Mägen einschliefen - und frierend dazu, denn so unerträglich heiß die Tage hier am Fuße des Schattengebirges sein mochten, so grausam kalt wurden die Nächte. Sie kuschelten sich eng aneinander, um sich gegenseitig mit ihrer Körperwärme zu helfen.
Selbst Twix überwand ihr Misstrauen gegen die Spinne und vergrub sich halb in das seidige Fell in ihrem Nacken - wenn auch erst, nachdem die Spinne einen heiligen Eid geschworen hatte sie unbehelligt zu lassen. Kim achtete streng darauf, dass die Spinne dabei nicht etwa die Beine hinter dem Rücken kreuzte.
Tief in der Nacht wachte er auf. Er hatte schlecht geträumt. Themistokles war an seinem Lager erschienen und hatte lange und schweigend auf ihn herabgeblickt und obwohl an seiner Gegenwart etwas ungemein Wohltuendes und Beschützendes war, hatte sie ihn zugleich doch zutiefst beunruhigt. Wenn Themistokles Gorywynn verließ, die Stadt, deren Einwohner er zu beschützen versucht hatte, so musste dort etwas Schreckliches geschehen sein.
Kim versuchte den Gedanken zu verscheuchen. Wahrscheinlich lag es nur an dem, was Sturm erzählt hatte. Von ihm wusste er ja, dass die meisten Menschen Gorywynn bereits verlassen hatten, und in seinem Traum hatte er den Gedanken zu Ende gesponnen und seinen geheimen Wunsch wahr gemacht, nach dem Themistokles ihnen gefolgt war um ihnen beizustehen.
Aber war es überhaupt ein Traum gewesen?
Kim sortierte behutsam drei lange Spinnenbeine von seiner Brust, setzte sich auf und sah sich mit klopfendem Herzen um. Es war vollkommen still (sah man von dem gewaltigen Schnarchen des Pack ab) und auch die Dunkelheit war beinahe vollkommen. Alles, was weiter als drei oder vier Schritte entfernt lag, war hinter einem Vorhang aus Schatten und lastender Schwärze verborgen.
Trotzdem - bewegte sich da nicht etwas? Schlich nicht eine Gestalt durch die Dunkelheit, ein Umriss aus noch tieferem Schwarz vor dem Hintergrund der Nacht?
Kim griff nach seinem Schwert, zog die Waffe aber nicht aus dem Gürtel, sondern ließ die rechte Hand griffbereit auf dem Knauf liegen, während er aufstand und vorsichtig ein paar Schritte in die Dunkelheit hinein machte. Er hörte noch immer nichts. Seine zum Zerreißen angespannten Nerven begannen ihm einen bösen Streich nach dem anderen zu spielen. Er wusste nicht, was wahr war und was Illusion.