»Stimmt«, sagte die Spinne. »Wo ist die Elfe?«
»Wir werden nicht sehr weit kommen, wenn wir vor Erschöpfung zusammenbrechen«, fuhr Kim ungerührt fort. »Außerdem sind die Zwerge nicht besonders schnell. Und die Hitze macht ihnen garantiert noch mehr zu schaffen als uns.«
So geduldeten sie sich, bis der Pack und wenige Augenblicke darauf auch die Elfe zurückkamen. Der Pack brachte ein wenig Obst und eine Hand voll Beeren, eine Mahlzeit, die kaum ausreichte um ihren Hunger zu stillen. Die Elfe allerdings brachte ausnahmsweise gute Nachrichten. Nur zwei oder drei Stunden entfernt, so verkündete sie, gäbe es ein großes Gehöft, das zwar von seinen Bewohnern verlassen, ansonsten aber unbeschädigt war. Dort würden sie Pferde und auch alles andere an Ausrüstung finden, was sie benötigten.
Bevor sie aufbrachen, warfen sie noch einen Blick auf das Zwergenheer. Es schien noch nicht sichtbar näher gekommen zu sein, war aber größer geworden. Es mussten buchstäblich unzählige Zwerge sein, dachte Kim schaudernd. Sturm hatte Recht. Die Zwerge hatten tatsächlich jeden Krieger aufgeboten, den sie besaßen, um ihrer habhaft zu werden.
Der Einzige, den der Anblick nicht vor Schrecken erstarren ließ, war der Pack. Er klatschte vor Freude in die Hände und begann aufgeregt auf und ab zu hüpfen, was die Spinne zu einer spöttischen Bemerkung und Sturm zu einem stummen Kopfschütteln veranlasste.
Wortlos drehten sie sich herum und brachen auf. Sie legten ein scharfes Tempo vor um das Gehöft zu erreichen.
Nicht einmal eine Stunde später liefen sie in die Falle, die die Zwerge für sie vorbereitet hatten.
Das Gelände war immer unwegsamer geworden. Das wuchernde Grün, das ihnen am Anfang wie ein Labsal für Auge und Seele vorgekommen war, begann bald hinderlich zu werden. Die Bäume rückten immer enger zusammen und immer mehr und mehr düsteres Unterholz begann die Zwischenräume zu blockieren, sodass sie sich bald nur noch mühsam hindurchzuzwängen vermochten und sich ihren Weg auf dem letzten Stück mit roher Gewalt bahnen mussten.
Nicht nur Kim atmete erleichtert auf, als sie plötzlich aus dem Wald heraustraten und sich vor ihnen eine weite, an drei Seiten von Gebüsch und an der vierten von einer steil aufragenden, fünf Meter hohen Felswand begrenzte Lichtung auftat. Er schätzte, dass sie nahezu die halbe Strecke bis zu dem Gehöft, von dem Twix berichtet hatte, bereits hinter sich gebracht hatten. Die Sonne war höher gestiegen und selbst im Wald war es bereits sehr warm. Draußen auf der Ebene musste es unerträglich heiß geworden sein. Die Zwerge in ihren schwarzen Umhängen mussten demnach gerade gekocht werden. Sie konnten es sich leisten, eine kleine Rast einzulegen.
Keiner der anderen erhob Einwände, als Kim einen entsprechenden Vorschlag machte. Sie suchten sich eine schattige Stelle am Waldrand und ließen sich ins niedrige Gras sinken und Kim schloss für einen Moment die Augen. Er wollte nicht schlafen, nur einen Moment ausruhen.
»Es ist jetzt nicht mehr weit«, murmelte Sturm, fast als hätte er seine Gedanken gelesen. Auch seine Stimme klang müde und Kim fragte sich, ob er vielleicht mehr darunter litt, plötzlich ein sterblicher Mensch mit allen seinen Fehlern, Unzulänglichkeiten und Schwächen zu sein, als er selbst zugeben mochte.
Träge öffnete er ein Auge und sah Sturm an. Der Junge hatte sich nicht weit entfernt ins Gras gesetzt und den Kopf gegen einen Baumstamm gelehnt. Er war sehr blass. Ohne Kim anzusehen fuhr er fort: »Wenn wir dort Pferde finden, sind wir heute Abend am Ziel. Spätestens morgen früh.«
»Und dann?«, fragte die Spinne. Sie saß nur ein paar Meter entfernt im Gras und kaute auf irgendetwas herum. Kim sah erschrocken hoch, entdeckte Twix aber dann nicht weit entfernt auf einem niedrig hängenden Ast sitzen und ließ sich beruhigt wieder ins Gras sinken.
Sturm hob die Schultern. »Wir müssen versuchen die Zauberkugel wieder zu finden«, sagte er.
»Reizend, wie du immer wir sagst! Wo wir sie doch auch verloren haben, nicht wahr?« Sie spuckte den Stock aus, auf dem sie bisher herumgekaut hatte, und warf einen sehnsüchtigen Blick zu Twix hinauf.
»Und wenn wir sie wieder gefunden haben, was tun wir dann damit?«, fuhr sie fort.
»Wir bringen sie zu Themistokles«, antwortete Kim rasch. »Er wird schon wissen, was er damit anzufangen hat.«
»Was für eine tolle Idee«, sagte die Spinne hämisch. »Habt ihr beiden Meisterstrategen dabei nicht nur eine Kleinigkeit vergessen? Ich meine: Wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, dann war es doch Themistokles selbst, der seine Zauberkraft überhaupt erst in die Kugel gebannt hat, damit sie dort sicher ist, oder?«
»Damals hat er aber noch nichts von dem Skull gewusst«, sagte Sturm. »Ohne seine Zauberkraft sind wir alle verloren.«
»Der Skull wird ganz Märchenmond zerstören«, stimmte Twix zu. »Ganz gleich, welche Seite gewinnt.«
Der Pack setzte sich auf, drehte mit einem Ruck den Kopf und starrte aus zusammengekniffenen Augen in den Wald hinein. Kim sah ihn einige Augenblicke lang aufmerksam an, ehe er fortfuhr: »Twix hat Recht. Es ist mittlerweile gleich, welche Seite den Sieg davonträgt. Auch die Sieger werden untergehen, wenn der Skull...«
Er sprach nicht weiter. Auch die Elfe hatte den Kopf gedreht und starrte konzentriert in die gleiche Richtung wie der Pack. »Was ist?«, fragte Kim. »Was habt ihr?«
»Ich weiß nicht«, murmelte Twix. »Aber etwas stimmt hier nicht...«
Noch bevor Kim eine weitere Frage stellen konnte, stieß der Pack einen zischenden Laut aus, griff plötzlich mit beiden Händen in das Gebüsch hinter sich und zerrte ein zappelndes, grün und braun geflecktes Bündel heraus.
Es war ein Zwerg. Statt eines schwarzen Umhanges trug er jedoch gefleckte Tarnkleidung. Sein Schädel war kahl geschoren - was den Pack jedoch nicht daran hinderte, die geballte Faust darauf niedersausen zu lassen. Der Zwerg quietschte, verdrehte die Augen und erschlaffte in Packs Griff.
»Dummkopf!«, schimpfte die Spinne. »Was nutzt er uns jetzt noch? Wir hätten ihn verhören sollen! Falsche Reihenfolge, verstehst du? Erst verhören, dann verprügeln, nicht umgekehrt!«
»Lass ihn«, sagte Kim besorgt. »Er hätte sowieso nichts gesagt.«
»Da wäre ich nicht so sicher«, sagte die Spinne. »Ich habe da so meine Methoden...«
»Seid still!«, sagte Sturm hastig. »Das gefällt mir nicht! Wo einer ist, da sind bestimmt auch noch mehr!«
Seine Worte wären kaum nötig gewesen, so wenig wie seine Warnung. Überall rings um sie herum raschelte und knisterte es plötzlich. Kim konnte keine Einzelheiten erkennen, aber es war fast, als wäre der gesamte Wald rings um sie herum plötzlich zum Leben erwacht. Überall bewegte es sich, huschten gefleckte Schatten hin und her. Die Zwerge waren in ihrer Tarnkleidung beinahe unsichtbar, aber es mussten viele sein.
»Nichts wie weg hier!«, kreischte die Spinne.
Ihre Warnung wäre beinahe sogar für sie selbst zu spät gekommen. Aus den Baumwipfeln über ihr fiel ein mit Steinen beschwertes Netz, in das sie sich augenblicklich verstrickte. Während die Spinne empört aufschrie und vergeblich versuchte sich aus den engen Maschen zu befreien, zog Kim sein Schwert und sprang auf. Twix und Sturm eilten sofort zu der Spinne, um sie aus ihrer misslichen Lage zu befreien, während er selbst und der Pack sich gegen den erwarteten Ansturm wappneten.
Der ganze Wald hinter ihnen schien mit einem Schlag zum Leben zu erwachen. Mindestens ein Dutzend Zwerge in gefleckten Anzügen brachen johlend aus dem Unterholz hervor und griffen Kim und den Pack mit Speeren, Schwertern und Keulen an. Kim und der Pack hielten dem ersten Ansturm stand, aber es wurde nur zu schnell klar, dass sie nur wenige Augenblicke erfolgreich sein konnten. Immer mehr und mehr Zwerge sprangen aus den Büschen hervor und auch überall sonst raschelte und huschte es.