»Sturm!«, keuchte Kim. »Beeilt euch!«
Sturm antwortete etwas, das er nicht verstand, und ihm wäre auch gar keine Zeit geblieben, auf seine Antwort zu achten, denn die Zwerge verdoppelten nun die Wucht ihres Angriffs. Drei, vier Speere stocherten gleichzeitig nach ihm und ein Schwert zog eine brennende Linie über seine Wade. Kim kappte die Speere mit einem einzigen, weit ausholenden Schlag, entriss dem Zwerg das Schwert und schlug ihn mit der flachen Seite seiner eigenen Waffe nieder. Neben ihm verteilte der Pack Nasenstüber und Maulschellen, die die Zwerge durcheinander taumeln ließ. Trotzdem mussten sie Schritt für Schritt zurückweichen.
Endlich war es Sturm und der Elfe gelungen, die Spinne aus dem Netz zu befreien, und sie konnten sich hastig in die Mitte der Lichtung zurückziehen. Sonderbarerweise verzichteten die Zwerge darauf, den strategischen Vorteil auszunutzen und ihnen zu folgen. Nur der Pack schleifte den Zwerg, den er am Anfang aus dem Gebüsch gezerrt hatte, weiter an einem Fuß hinter sich her, warf ihn dann aber in hohem Bogen zurück in den Wald, als Kim ihn drohend ansah.
Rücken an Rücken nahmen sie in der Mitte der Lichtung Aufstellung. Sie waren umzingelt. Dutzende und Aberdutzende von Zwergen waren aus dem Wald herausgetreten und schüttelten drohend ihre Waffen, griffen sie aber noch immer nicht an.
»Mich mit einem Netz zu fangen!«, keifte die Spinne. »Das ist ja wohl das Letzte! Ich habe ja schon viel erlebt, aber eine solche Unverschämtheit ist mir ja noch nie untergekommen! Wenn ich die Kerle zu fassen kriege, dann können sie was erleben, das schwöre ich!«
»Nur keine Bange«, sagte Sturm grimmig. »Dazu bekommst du gleich Gelegenheit.«
Er deutete auf den Waldrand. Die Spinne keifte unbeeindruckt weiter, folgte seiner Geste mit Blicken und brach dann plötzlich ab.
»Oh«, sagte sie.
»Treffender hätte ich es auch nicht ausdrücken können«, kommentierte Twix.
»Ich verstehe nicht, warum sie nicht angreifen!«, sagte Sturm. »Worauf, zur Hölle, warten sie denn noch?«
Kim hob die Schultern. Immer wieder sah er sich um, aber wohin er auch blickte, es war überall dasselbe: Vor dem Waldrand war eine massive Mauer von Zwergen erschienen. Sie waren an drei Seiten eingekreist. Und genau in diesem Moment erschienen auch auf der Felswand, die das letzte Viertel der Lichtung begrenzte, zahlreiche Gestalten.
»Da hast du deine Antwort«, murmelte er mit einer entsprechenden Geste. »Darauf.«
Sturm sog erschrocken die Luft ein. Die meisten Gestalten oben auf dem Fels waren Zwerge, aber vier von ihnen waren etwas größer und trugen schwarze, zerbeulte Eisenrüstungen. »Die Schwarze Garde«, murmelte Kim.
»He, Leute!«, brüllte die Spinne. »Habt ihr Lust auf eine zweite Runde?«
Die vier schwarzen Krieger reagierten nicht, sondern starrten weiter drohend auf sie herab. Sturm fragte: »Wer ist das?«
»Die Schwarze Garde«, sagte Kim noch einmal. »Wo sie sind, da ist Kai auch nicht weit.«
»Kai?«, fragte Sturm ungläubig. »Du meinst, er hat sich mit den Zwergen zusammengetan? Das kann ich mir nicht vorstellen!«
Im Grunde konnte Kim das auch nicht. Die Zwerge waren - wenn auch auf vollkommen andere Weise als zum Beispiel Twix oder Themistokles - magische Wesen und versinnbildlichten somit alles, was Kai und seine Anhänger verabscheuten. Es erschien ihm geradezu unmöglich.
Aber vielleicht gab es ja auch noch eine andere Erklärung. Genau genommen stellte die Schwarze Garde ja nicht Kais Leibwache dar, sondern die des ...
Die vier eisernen Krieger traten paarweise auseinander, um Platz für eine fünfte Gestalt zu machen.
Es war nicht Kai.
Kim war nicht einmal sicher, ob es ein Mensch war.
Die Gestalt war gut zwei Meter groß und trug dieselbe Art von schwarzem, bis zum Boden reichenden Mantel wie das Kleine Volk. Ihr Gesicht verbarg sich im Schatten der weit nach vorne gezogenen Kapuze. Aber das war nicht der einzige Grund, aus dem Kim es nicht genau erkennen konnte. Etwas wie eine körperlose Dunkelheit hüllte sie ein.
»Wer ... ist das?«, flüsterte Sturm.
»Das«, antwortete Kim mit belegter Stimme, »ist der Magier der Zwei Berge. Habe ich Recht?«
Die letzten drei Worte hatte er mit erhobener Stimme zu der Gestalt oben auf dem Felsen gerufen.
Zwei, drei Sekunden lang geschah gar nichts, dann nickte der schwarze Riese. »Du bist klug, Kim. Aber das habe ich erwartet.«
Seine Stimme klang unheimlich. Kim konnte nicht sagen, ob sie einem Mann oder einer Frau gehörte, alt oder jung war, fremd oder vertraut.
»Und was willst du?«, fragte er.
»Dich«, antwortete der Magier der Zwei Berge.
»Mich?« Kim blinzelte verwirrt. »Aber was -«
»Ich brauche deine Hilfe«, unterbrach ihn die schwarze Riesengestalt.
»Meine Hilfe.« Kim hätte um ein Haar laut aufgelacht. »Wie kommst du denn auf die Idee, dass ich dir helfen würde - ganz egal, wobei?«
»Du möchtest doch das Leben deiner Freunde retten, oder?« Eines konnte man dem Magier der Zwei Berge nicht nachsagen, dachte Kim: Dass er lange um die Dinge drum herumredete.
»Dabei haben wir aber auch noch ein Wörtchen mitzureden, oder?«, fragte Sturm.
Der Magier der Zwei Berge würdigte ihn keiner Antwort. »Du hast meine Pläne gestört, Kim«, fuhr er fort. »Nun wirst du mir helfen, den Schaden wieder gutzumachen, den du angerichtet hast - oder deine Freunde bezahlen mit dem Leben dafür.«
»Schaden angerichtet?«, zischelte die Spinne. »Du hast ja keine Ahnung! Wir haben noch nicht einmal richtig damit angefangen, Schaden anzurichten!«
Kim starrte den schwarzen Giganten durchdringend an. Obwohl er mitten im hellen Sonnenlicht stand, schien er trotzdem von einer Aura der Düsternis und Kälte eingehüllt zu sein. Es gelang Kim immer noch nicht, einen Blick unter die schwarze Kapuze zu werfen. Es war, als ... als wäre gar kein Gesicht darunter.
»Wissen Kai und seine Krieger, dass du dich mit den Zwergen zusammengetan hast?«, fragte er.
»Nein«, antwortete der Magier. »Doch selbst wenn, wäre es gleich. Ich brauche die Zwerge nicht mehr. Jetzt, wo ich dich habe.«
Und endlich verstand Kim. »Du warst es«, murmelte er. »Die Zwerge haben all diese magischen Dinge in deinem Auftrag gestohlen, nicht wahr?«
Der Magier der Zwei Berge lachte anerkennend. »Ich sagte doch bereits: Du bist klug. Klug und mutig. Es ist besser, dich nicht zum Feind zu haben.«
Kim konzentrierte sich auf die Schwärze unter der Kapuze. Gleichzeitig versuchte er, seine rechte Schulter unauffällig ein wenig herabsinken zu lassen. Im ersten Moment geschah gar nichts, dann jedoch spürte er, wie der Bogen, den er darüber trug, ganz allmählich ins Rutschen kam.
»Was willst du von mir?«, fragte er laut. Er ahnte die Antwort, aber er musste irgendwie Zeit gewinnen. Turocks Zauberbogen rutschte Millimeter um Millimeter weiter.
»Durch eure Schuld wurde das Zwergenreich zerstört«, antwortete der Magier der Zwei Berge, »und mit ihm die Magie, die das Kleine Volk in meinem Auftrag gesammelt hat. Nun wirst du zu dem Ort gehen, an dem Themistokles' Zauberkugel liegt. In ihr ist alle magische Macht des alten Mannes gefangen. Wer sie besitzt, der besitzt die Macht über die Welt.«
»Ich verstehe«, sagte Kim. Noch ein winziger Ruck und er würde den Bogen in der rechten Hand halten. Jetzt musste er nur noch irgendwie an den einzigen verbliebenen Pfeil in seinem Köcher herankommen. »Und danach brauchst du auch Kai und seine nützlichen Krieger nicht mehr.«
»Ich habe mit dem Aufstand der Jungen nichts zu tun«, antwortete der Magier der Zwei Berge. Seltsamerweise glaubte Kim ihm. »Ich bin selbst alt, kleiner Held. Älter, als du dir auch nur vorstellen kannst. Warum sollte ich einen Aufstand der Jungen gegen die Alten unterstützen? Es spielt keine Rolle, wer siegt. Am Schluss werde ich der Sieger sein.«