»Dann kannst du dir deine Zauberkugel ja auch selbst holen«, knurrte Kim.
»Nein, das kann ich nicht«, antwortete der Magier der Zwei Berge. »Kein Bewohner dieser Welt kann den Ort erreichen, an dem die Kugel liegt. Nur du allein kannst es. Und du wirst es tun!«
»Und wenn nicht?«, fragte Kim. »Was bringt dich auf die Idee, dass wir alle hier ohne zu zögern unsere Leben opfern würden, um Märchenmond zu retten? Ich?« Er deutete auf sich. »Sie?« Seine Hand wies auf die Spinne. »Er und er?« Er deutete nacheinander auf Sturm und den Pack. »Und sogar sie?« Damit hob er die Hand und wies auf die Elfe, die auf seiner Schulter saß. Aber damit führte er die Bewegung fort, griff nach dem gefiederten Ende des Pfeiles in dem Köcher auf seinem Rücken und zog ihn heraus. Gleichzeitig ließ er die rechte Schulter fallen. Der Bogen verlor endgültig seinen Halt, fiel zielsicher in seine geöffnete Rechte und Kim riss den anderen Arm in die Höhe und legte den Pfeil auf die Sehne, alles in einer einzigen, fließenden Bewegung, so schnell, dass das Auge ihr kaum folgen konnte. Noch während Sturm neben ihm ein überraschtes Keuchen ausstieß, spannte er den Bogen und ließ den Pfeil fliegen.
Der Magier der Zwei Berge machte nicht die kleinste Bewegung um dem Geschoss auszuweichen. Der schwarze Pfeil raste mit tödlicher Präzision auf die Dunkelheit unter der Kapuze zu - und hindurch!
Der Pfeil schien auf keinen Widerstand zu treffen. Lautlos und ohne auch nur an Geschwindigkeit zu verlieren, durchschlug er den schwarzen Mantel des Magiers, raste noch ein Stück weiter und kehrte nach einer weit geschwungenen Schleife zurück!
Seine Spitze wies genau auf Kims Herz.
Kim wollte sich zur Seite werfen, aber er war wie gelähmt. Seine Muskeln versagten ihm einfach den Dienst. Hilflos musste er zusehen, wie der Pfeil genau auf ihn zuschoss. In der nächsten Sekunde musste er ihn erreichen und sein Herz durchbohren.
Der Pack schrie gellend, warf sich mit weit ausgebreiteten Armen vor und fing den Pfeil mit seinem eigenen Körper auf. Der Schlag war so gewaltig, dass der Pack gegen Kim geschleudert wurde und ihn mit sich zu Boden riss. Die Pfeilspitze, die zwischen seinen Schulterblättern hervorragte, verletzte Kim an der Schulter, sodass er nicht nur vor Schreck, sondern auch vor Schmerz aufschrie, als sie beide zusammen rücklings in Gras geschleudert wurden.
»Was für eine noble Geste«, sagte der Magier der Zwei Berge abfällig. »Und wie sinnlos! Packt sie!«
Die beiden letzten Worte, die er geschrien hatte, galten den Zwergen. Während seine vier in Eisen gehüllten Leibwächter ohne zu zögern von der fünf Meter hohen Felswand heruntersprangen, setzten sich die Zwerge johlend in Bewegung.
Kim wälzte den wimmernden Pack von sich herunter, ergriff den Pfeil und brach die Spitze mit einem entschlossenen Ruck ab. Er wusste ja, dass der Pfeil den kleinen Kobold nicht töten konnte, aber er musste ihm große Schmerzen bereiten. Trotzdem zögerte er keine Sekunde, nach dem abgebrochenen Ende zu greifen und mit einem einzigen, harten Ruck herauszuziehen. Der Pack kreischte und fiel in Ohnmacht und Kim hob sein Schwert auf und wandte sich den Angreifern zu.
Die Schwarze Garde war nahezu heran und das galt auch für die Zwerge. Die Spinne hatte sich kampfeslustig auf die Hinterbeine erhoben und selbst Twix summte wie eine gereizte Hornisse.
Nur Sturm hatte seine Waffe nicht wieder aufgehoben. Stattdessen griff er in die Tasche, zog etwas Kleines, Glitzerndes heraus und schrie plötzlich: »Augen zu!«
Kim gehorchte ganz instinktiv - er presste die Augen zusammen und warf die Hände vor das Gesicht.
Trotzdem schrie er vor Schreck und Schmerz wie alle anderen schrill auf, als ein unerträglich heller, gleißender Blitz über ihnen aufflammte. Ein gewaltiges Dröhnen und Heulen erklang und im Bruchteil einer Sekunde wurde es fast unerträglich kalt.
Als Kim vorsichtig die Hände herunternahm und die Augen öffnete, bot sich ihm ein schier unglaubliches Bild.
Die Lichtung war weiß geworden. Gras, Büsche und selbst die Bäume am Waldrand waren geknickt und mit einem schimmernden weißen Eispanzer überzogen, als wäre der Urvater aller Polarstürme über sie hinweggefaucht. Die Zwerge, die Schwarze Garde und selbst der Magier der Zwei Berge oben auf seinem Felsen waren zu bizarren weißen Eisstatuen geworden, mitten in der Bewegung erstarrt und unter schimmerndem weißen Eis verborgen. Nichts regte sich. Die Luft knisterte vor Kälte.
»Hö?«, machte die Spinne.
»Was ... wie hast du das gemacht?«, fragte Kim stockend.
»Eine kleine Überraschung, die mir meine Mutter zugesteckt hat, ohne dass mein Vater es merkte«, sagte Sturm grimmig. »Ich war nicht sicher, ob es funktioniert ... aber manchmal muss man eben ein Risiko eingehen.«
Plötzlich grinste er über das ganze Gesicht, drehte sich herum und verpasste dem nächsten Zwerg einen Tritt, der ihn sich zweimal überschlagen und dann in den Schnee stürzen ließ.
Kim grinste ebenfalls, schüttelte aber trotzdem den Kopf und sagte: »Tu das nicht. Bitte.«
»Bist du verrückt?«, fragte Sturm. »Sie hätten uns ohne zu zögern in Stücke gerissen. Um genau zu sein: Sie wollten mich in Stücke reißen!«
»Ich weiß«, antwortete Kim. »Aber es ist nicht ihre Schuld.« Er deutete zu der erstarrten Gestalt des Magiers der Zwei Berge hinauf. »Erinnerst du dich, was du mir über ihn erzählt hast? Er kann anderen seinen Willen aufzwingen. Und nach allem, was ich bisher erlebt habe, nehme ich an, dass er ziemlich gut darin ist.«
Sturm starrte den Magier an. In seinen Augen blitzte es regelrecht hasserfüllt auf. Aber er sagte nichts mehr und nach ein paar Sekunden wandte sich auch Kim um und ließ sich neben dem Pack in die Hocke sinken.
Das kleine Wesen lag auf der Seite und wimmerte leise. Der Anblick brach Kim fast das Herz. Er wusste, dass der Pack nicht sterben würde, weder an dieser noch an irgendeiner anderen Verletzung, aber das änderte nichts daran, dass er sein Freund war und dass er litt. Er hätte viel darum gegeben, seine Schmerzen zu lindern, aber das konnte er nicht.
»Twix!«
»Ich weiß, was du sagen willst.« Die Elfe schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich kann ihm nicht helfen. Meine Magie hilft nur Geschöpfen aus unserer Welt. Bei ihm ist sie wirkungslos. Aber er wird sich bald erholen.«
»Mir hast du doch auch geholfen.« Kim deutete auf Sturm. »Und ihm!«
»Das war etwas anderes«, behauptete Twix. »Er ist ein Geschöpf jeder Welt. Und du bist...« Sie suchte nach Worten. »... eben du«, sagte sie schließlich.
»Der kleine Knirps kommt schon durch«, sagte auch die Spinne. Sie kam näher und stieß den Pack fast zärtlich mit einem ihrer langen Beine an. »Er hat dir das Leben gerettet. Das hätte ich nicht gedacht.« Sie seufzte, dann drehte sie sich zu einem der erstarrten Zwerge herum und musterte ihn nachdenklich.
»Wenn man einen dieser Speere benutzt ...«, murmelte sie. Fragend sah sie zu Kim hoch. »Was meinst du, wie Zwerg am Stiel schmeckt?«
»Bestimmt nicht gut«, antwortete Kim. Gegen seinen Willen musste er grinsen. Kopfschüttelnd drehte er sich um, zögerte einen Moment und ging dann zu den vier gepanzerten Gestalten der Schwarzen Garde hinüber.
»Was hast du vor?«, piepste Twix.
»Ich will endlich wissen, was unter diesen Rüstungen ist«, sagte er. Er versuchte auch unverzüglich seine Worte in die Tat umzusetzen, aber das erwies sich als gar nicht so einfach. Die Helmvisiere der Ritter waren so festgefroren, dass er eine Brechstange gebraucht hätte um sie zu öffnen.
Kim versuchte einen Teil der Rüstungen zu entfernen, doch das war ebenso unmöglich. Die ledernen Riemen, mit denen die einzelnen Rüstungsteile aneinander befestigt waren, waren selbst zur Härte von Stahl erstarrt. Aber er musste wissen, was unter diesen Rüstungen war!