»Du meinst...?«
»Nein«, verbesserte ihn Kim. »Ich meine nicht. Ich weiß,.« Er zögerte einen Moment, drehte sich herum und fügte ganz leise und bitter hinzu: »Und ich kann dir jetzt sogar sagen, wer ihn aus seinem Gefängnis befreit hat. Und du glaubst, du hättest Schaden angerichtet?!«
Sturm starrte ihn nur an. Kim war nicht sicher, ob er wirklich begriff, was er gerade gehört hatte, und wenn, ob er es überhaupt verstehen wollte. Er gab ihm auch keine Gelegenheit, eine weitere Frage zu stellen, sondern ließ sich auf die Knie herabsinken und betrachtete konzentriert die Felswand unter sich. Der Stein war so glatt wie poliertes Glas und schimmerte unheimlich in dem roten Licht. Kim spürte einen sachten, aber unheimlichen Hauch trockener Hitze auf dem Gesicht. Dort unten war die Hölle.
»Du willst nicht wirklich dort hinunter, oder?«, fragte Sturm nervös.
»Nein«, antwortete Kim. »Ich bin nur hergekommen um die Aussicht zu genießen.« Er sah sich nach dem Pack um. Das kleine Wesen war am Waldrand zurückgeblieben und zitterte am ganzen Leib. Als Kim jedoch die Hand hob und winkte, kam er gehorsam, wenn auch zögernd, herangetrippelt.
»Keine Angst«, sagte Kim. »Ich verlange nicht von dir, dass du mich begleitest. Aber jemand muss mir schließlich den Weg zeigen.«
Der Pack gab leise, wimmernde Laute von sich, und auch wenn Kim sie nicht verstand, so war ihm doch die Bedeutung dieser Laute ohne den mindesten Zweifel klar. Der Pack war schon dort unten gewesen, vermutlich unzählige Male. Er war dort unten geboren worden, in dem brodelnden roten Chaos des Ungeformten, und er wollte um nichts auf der Welt noch einmal dort hinab.
Kim verlangte es auch nicht. Wo immer die Zauberkugel auch lag, es musste ein Ort sein, der selbst für den Pack unerreichbar war. Wäre es anders gewesen, so hätte der Magier der Zwei Berge seine Schwarze Garde losgeschickt um sie zu holen.
Kim spürte abermals ein Frösteln, diesmal aber begleitet von einer deutlichen Aufwallung von Zorn, die dem Magier galt, zu einem Gutteil aber auch ihm selbst. Er hatte ihn praktisch mit der Nase darauf gestoßen und er hatte es einfach nicht gemerkt! Der Magier der Zwei Berge! Turock! Was für ein Narr war er doch gewesen!
Etwas landete weich wie eine Feder auf seiner Schulter und ein goldenes Schimmern blendete für einen Moment seine Augenwinkel.
»Keiner von uns kann dir dorthin folgen, wohin du gehst, kleiner Held«, sagte Twix.
»Und wir hätten übrigens auch gar keine Lust dazu«, fügte die Spinne hinzu. Kim wusste, dass das gelogen war. Ein einziges Wort hätte gereicht und sie alle wären ihm freiwillig in den Abgrund gefolgt, selbst wenn es ihren sicheren Tod bedeutete. Der Pack winselte wie ein verängstigtes Hündchen. Er ergriff ihn am Arm und zupfte an seinem Hemd um ihn von dem furchtbaren Abgrund fortzuziehen, aber Kim streifte seine Hand mit sanfter Gewalt ab.
»Ich weiß«, sagte er. »Und ich danke euch, dass ihr mir so weit gefolgt seid. Ohne euch hätte ich es nie so weit geschafft.«
»Schnief«, sagte die Spinne. »Was für eine herzzerreißende Abschiedsszene! Oh, wie ich so etwas liebe! Engelschöre!«
Kim lächelte. »Ich muss jetzt los. Wenn ich nicht zurückkomme, dann ... passt auf euch auf.«
»Überlege es dir gut«, sagte die Elfe. »Niemand weiß, was dort unten ist. Schreckliche Gefahren könnten dort auf dich lauern! Das Unbekannte!«
»Wahrscheinlich«, antwortete Kim. Dann schüttelte er den Kopf. »Aber so schlimm wird es schon nicht werden. Wisst ihr - ihr könnt es nicht verstehen, aber das alles hier ist... irgendwie Teil von mir. Diese Welt, ihr... selbst ich, in der Gestalt, in der ich euch hier erscheine. Und auch alles, was dort unten sein mag.«
Aber vielleicht stimmt das auch nicht, flüsterte eine Stimme hinter seiner Stirn. Was, wenn er sich irrte? Wenn er mit dem, was Sturm als das Ende der Welt bezeichnet hatte, auch das Ende seiner Vorstellungskraft erreicht hatte und nun in eine vollkommen fremde, unverständliche und tödliche Fantasiewelt eindrang, die nicht die seine war, eine Welt, in der Kreaturen wie der Skull herrschten?
Dann kam ihm noch ein schrecklicherer Gedanke: Was, wenn es nicht so war und auch der Skull seiner Vorstellung entsprang? Welche anderen, womöglich noch unbeschreiblicheren Schrecken mochten dann noch dort unten auf ihn warten? »Das sagst du nur, um dir selber Mut zu machen«, behauptete die Spinne.
Kim seufzte. »Wenn du Gedanken lesen könntest«, sagte er, »dann hättest du das jetzt nicht gesagt.«
Er drehte sich herum, und kaum hatte er es getan, da erschienen vor ihm wie aus dem Nichts die ersten Stufen einer schmalen, steil in die Tiefe führenden Treppe.
Vor ihm waren immer genau vier Stufen und hinter ihm auch. Machte er einen Schritt, so löste sich eine der Stufen hinter ihm auf und vor ihm erschien wie aus dem Nichts eine neue. Wenn er zwei Stufen auf einmal nahm, dann waren es jeweils zwei und der Vorgang wiederholte sich sogar in umgekehrter Richtung, wenn er wieder nach oben lief. Kim hatte es ausprobiert, schon um sicher zu sein, dass er nicht etwa sein Ziel erreichte nur um festzustellen, dass es keinen Rückweg mehr gab. Er hatte auch versucht die Stufen zu zählen, war aber schon nach wenigen Augenblicken durcheinander gekommen und hatte es aufgegeben. Wie tief war die Treppe bis ans Ende der Fantasie?
Das Gehen auf diesen unheimlichen Stufen, auf denen er sich mehr und mehr vorkam wie ein Hamster in einem bizarren Laufrad, kostete enorme Kraft. Die Treppe war so schmal, dass er mit der linken Schulter am rauen Fels entlangschrammte, während sein rechter Fuß mehr als einmal fast ins Leere getreten war. Und es wurde immer heißer. Längst war er am ganzen Leib in Schweiß gebadet und selbst das Atmen bereitete ihm Mühe. Unter ihm loderten die Feuer der Hölle. Kim bedauerte es längst, den Pack nicht mitgenommen zu haben. Vielleicht hätte er ihn nicht bis zu seinem Ziel begleiten können, aber doch wenigstens ein Stück weit. Das Schlimmste auf seinem Weg war nicht die Anstrengung des Laufens oder die erstickende Hitze. Es war die Angst. Und selbst die größte Furcht ließ sich leichter ertragen, wenn jemand da war, mit dem man sie sich teilen konnte.
Er hätte viel darum gegeben, eine Pause zu machen. Der Gedanke, sich auf die Stufen zu setzen, den Kopf gegen die Wand zu lehnen und die Augen zu schließen, und sei es nur für einen Moment, war ungemein verlockend. Aber er widerstand ihm. Er hatte Sturm und den anderen versprochen, so schnell wie möglich zurückzukommen. Außerdem bestand die Gefahr, dass er tatsächlich einschlafen und auf den schmalen Stufen die Balance verlieren würde. Kim zweifelte nicht daran, dass sich die Treppe auch dann noch treu und brav vor ihm abspulen würde, wenn er sie kopfüber hinunterfiel, statt zu gehen, aber was würde passieren, wenn er neben die Treppe fiel? Rechts von ihm war nichts, eine ganze Menge Nichts. Er verspürte keine besondere Lust auszuprobieren, was geschah, wenn er in dieses Nichts hineinfiel.
Während dieser Gedanken waren seine Schritte immer schneller geworden und plötzlich glaubte er tief unter sich eine Veränderung wahrzunehmen, etwas wie ein vielleicht erst im Entstehen begriffenes, aber schon spürbares Muster in dem roten Chaos. Er beschleunigte seine Schritte noch weiter und die Veränderung hielt an. Er konnte noch immer keine Einzelheiten erkennen, aber unter ihm war etwas.
Kim rannte die Stufen mittlerweile fast hinunter, wobei er mit der linken Hand an der Wand entlangstrich, vielleicht nur um das Gefühl zu haben, dass da überhaupt so etwas wie ein fester Halt war. Weit unter ihm war nun etwas wie ein verschwommener Schatten zu erkennen, wie ein schmaler Sims, der sich an der gesamten Felswand entlangzog. Er wagte es nicht, seine Schritte noch weiter zu beschleunigen, aber nun, nachdem er einmal ein Ziel vor Augen hatte, schien es immer rascher Gestalt anzunehmen. Der schmale Sims wuchs an, gewann an Form und Substanz und begann das unheimliche rote Licht aus der Tiefe allmählich zu verdrängen. Es verschwand nicht ganz, doch als Kim schließlich am Ende der bizarren Treppe angekommen war, da war es zu einem fingerbreiten, düsterrot leuchtenden Streifen rechts von ihm geworden, wie ein ferner Sonnenaufgang.