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Er war enttäuscht, als die Stufen endlich aufhörten unablässig unter seinen Füßen zu verschwinden und neu aufzutauchen und er endlich wieder festen Boden spürte.

Links von ihm erhob sich immer noch die gewaltige Wand, die jetzt nicht mehr rot schimmerte, sondern in dem tiefsten Schwarz, das man sich nur vorstellen konnte. Auf der anderen Seite, aber auch vor und hinter ihm, erstreckte sich eine unvorstellbar weite, vollkommen leere Ebene aus demselben Material, das vielleicht Felsen war, vielleicht auch nur zu schwarzer Härte erstarrtes Nichts. Nirgends war auch nur die geringste Unterbrechung zu sehen, nicht die kleinste Unebenheit, nicht einmal die Andeutung einer Form.

Und schon gar keine Spur von Themistokles' Zauberkugel.

Kim sah sich unschlüssig nach allen Richtungen um und ging dann wahllos weiter. Eine Richtung erschien ihm so gut wie die andere. Wenn die Zauberkugel hier war, dann würde er sie auch finden und es war keine Frage der Entfernung. Lange Zeit marschierte er an der himmelhoch reichenden Wand entlang. Dann und wann blieb er stehen und warf einen Blick in die Richtung zurück, aus der er gekommen war. Die Treppe war längst in der Entfernung verschwunden und hinter ihm erstreckte sich dasselbe, konturlose Nichts wie vor ihm. Aber Entfernungen spielten hier keine Rolle, das hatte er schon beim ersten Mal gelernt, als er über den Rand der Welt hinausgegangen war. So wenig wie Zeit. Er konnte eine Woche hier unten verbringen, ohne dass mehr als ein Augenblick verging, aber es mochte auch genau anders herum sein.

Er konnte nicht ewig über diese schwarze Ebene laufen!

Und kaum hatte er diesen Gedanken gedacht, da sah er sehr weit vor sich am Horizont einen verschwommenen Umriss. Kim atmete erleichtert auf - und blieb jäh wieder stehen.

War es das?

Als er sich nichts mehr gewünscht hatte als das Ende der Treppe zu erreichen, da war es unter ihm erschienen. Und als er sich mit aller Macht gewünscht hatte, das Ende seiner Wanderung zu erreichen, da war es vor ihm aufgetaucht. Musste er sich nur etwas wünschen, um es zu bekommen, hier, in diesem unheimlichen Reich zwischen der Realität und dem Ungeformten?

Kim konzentrierte sich auf die Zauberkugel, schloss für einen Moment die Augen und streckte die Hand aus.

Als er die Lider wieder hob, war seine Hand so leer wie zuvor. Dieser kleine Misserfolg entmutigte ihn jedoch nicht. Er wäre im Gegenteil wohl eher erstaunt gewesen, wäre es wirklich so einfach. Es war wohl eher so, wie er selbst vor ein paar Tagen erst gesagt hatte: In gewissem Sinne war dies alles hier seine Schöpfung. Märchenmond mit all seinen Geschöpfen, Rätseln und Wundern war die Welt seiner Fantasie, aber das bedeutete nicht, dass er die Macht eines Gottes hatte. Offensichtlich musste er sich nach seinen eigenen Spielregeln richten. Unheimlich war allenfalls, dass er sich mit einem Teil seiner eigenen Fantasie auseinander setzen musste, der ihm selbst fremd und unbekannt war.

Er ging weiter. Der Umriss am Horizont wuchs allmählich heran und wurde schließlich zu einer gut drei Meter hohen, moosbewachsenen Mauer aus schwarzen Steinquadern, über der die blattlosen Äste schwarzer, abgestorbener Bäume emporragten, die auf der anderen Seite standen. In der Mitte dieser Mauer befand sich ein gewaltiges Tor aus geschmiedeten Eisenstäben, an denen der Rost nagte. Das Tor wurde von zwei gewaltigen Steinstatuen flankiert, die Teufelsgestalten darstellten, wie man sie manchmal über den Türen alter Kirchen sah. Der Anblick erinnerte Kim mehr als alles andere an einen Friedhof.

Er fröstelte. So hatte er sich sein Ziel nicht vorgestellt. Er hatte mit großen Gefahren gerechnet, vielleicht mit einer Falle, die ihm der Magier der Zwei Berge stellte, vielleicht mit einem tödlichen Gegner, aber das hier ... Es machte ihm Angst, auf eine vollkommen neue, unbekannte Art. Es kostete ihn fast seine ganze Kraft, den Arm zu heben und das große Gittertor zu öffnen. Zögernd trat er hindurch.

Er hatte sich nicht getäuscht. Es war ein Friedhof.

»O Mann«, murmelte Kim. »Ich glaube, ich muss mir einen guten Psychoanalytiker suchen.«

Die Worte schienen in dem grauen Nebel zu versickern, der knöcheltief auf dem Boden lastete, und sie vertrieben die unheimliche Stimmung nicht, die von ihm Besitz ergriffen hatte, sondern schienen sie im Gegenteil nur noch zu verstärken. Mit klopfendem Herzen trat er vollends durch das Tor und sah sich um. Es war sehr kalt, so kalt, dass sein eigener Atem als grauer Dampf vor seinem Gesicht gefror. Vor ihm reihten sich graue, niedrige Grabsteine, flache Erdhügel und einfache Holzkreuze und weit, weit entfernt, fast mehr zu erahnen als wirklich zu sehen, erhob sich etwas wie eine gemauerte Gruft. Ein unwirkliches, graues Licht lag über der ganzen Szenerie, ein Licht, das alle Farben auslöschte und den Friedhof noch bizarrer aussehen ließ; als betrachte er einen uralten, in Schwarzweiß gedrehten Horrorfilm.

Aber wieso ein Friedhof? Wenn Themistokles wirklich seine ganze Zauberkraft, alles, was die Wunder und die Magie Märchenmonds ausmachte, an diesen Ort verbannt hatte, wieso dann ausgerechnet auf einen Friedhof - den traurigsten aller nur denkbaren Orte?

Langsam begann er zwischen den verfallenen Grabreihen entlangzugehen. Anfangs vermied er es, die Gräber allzu genau anzusehen. Trotzdem fiel ihm auf, dass sie ausnahmslos sehr alt zu sein schienen und in keinem guten Zustand waren. Niemand schien sich um diesen Friedhof zu kümmern. Er fragte sich, wer hier wohl begraben lag.

Schließlich überwand er seine Scheu und trat an eines der Gräber heran. Es war sehr klein, fast wie für ein Baby, und halb eingesunken. Graues, kränklich aussehendes Moos hatte sich wuchernd darauf ausgebreitet und die einfache Steinplatte, mit der es abgedeckt war, war geborsten. Weder ein Name noch ein Datum waren auf dem Grabstein zu lesen.

Kim beugte sich weiter vor. Durch die Risse in der Platte konnte er einen Blick in das eigentliche Grab werfen. Es war noch kleiner, als er erwartet hatte, allenfalls so groß wie ein Schuhkarton, und es enthielt keinen Sarg.

Kim riss ungläubig die Augen auf, ließ sich auf die Knie fallen und stemmte die zerbrochene Grabplatte mit einem Ruck zur Seite. Sein Atem stockte. Eine geschlagene Minute hockte er völlig reglos da und starrte in das geöffnete Grab hinab.

Unter ihm lag ein kleiner, abgegriffener Teddybär. Er hatte nur ein Ohr und sein Fell war an vielen Stellen so dünn, dass die Holzwolle, mit der er ausgestopft war, hier und da schon hervorschaute.

Und es war nicht irgendein Teddybär.

Es war sein Teddy. Er hatte Kim gehört, als er noch ein kleiner Junge gewesen war, und später hatte er ihn an seine Schwester Rebekka weitergegeben, auf deren Regal er noch heute seinen Platz hatte.

Kim verspürte ein neuerliches, kaltes Frösteln. Was bedeutete das?

Er stand auf, trat an das nächste Grab und öffnete es ebenfalls. Wie er erwartet hatte, enthielt auch dieses Grab keinen Sarg. Stattdessen fand er ein kleines, nicht besonders gut zusammengebautes Modell der ENTERPRISE, des Raumschiffes aus der STAR-TREK-Serie, deren Folgen er vor noch gar nicht einmal so langer Zeit regelrecht verschlungen hatte. Er hatte dieses Modell eigenhändig zusammengebaut, vor drei oder vier Jahren. Es hatte eine Zeit gegeben, da war er in seinen Träumen mit der ENTERPRISE geflogen.