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Kim öffnete das nächste Grab und fand einen Stapel zerfledderter Comic-Heftchen, die er auswendig kannte.

Und so ging es weiter.

In keinem der Gräber war das, was man in einem Grab zu finden erwartete. Er fand Spielzeug und Bücher, Fotografien und Videokassetten, selbst gemalte Bilder und alte Stofftiere und einmal sogar eine Fotografie seines Vaters. Es war kein Bild, das seinen Vater so zeigte, wie er wirklich war, sondern so, wie er ihn in einem gewissen Alter gesehen hatte: als einen gütigen, weisen Riesen, allwissend und unfehlbar. Alle Kinder sehen ihre Väter so für eine Weile, bis sie begreifen, dass auch sie Menschen sind und Fehler machen.

Am meisten aber schockierte ihn der Inhalt eines Grabes, das sich nahezu am Ende der langen Reihe befand. Es enthielt eine dreißig Zentimeter große Action-Figur, die einen Drachen mit weit gespreizten Flügeln darstellte. Er hatte ihn eigenhändig mit Goldbronze angemalt. Es war Jahre her und er erinnerte sich, dass er ihn weggeworfen hatte - vorgeblich, weil einer der Flügel abgebrochen war, in Wirklichkeit aber vielmehr, weil es ihm irgendwann peinlich geworden war, ein Kinderspielzeug auf seinem Schreibtisch stehen zu haben, wenn seine Freunde in sein Zimmer kamen.

Und endlich begriff Kim, wo er wirklich war.

Er dachte an den zerschlissenen Teddybären, den er im allerersten Grab gefunden hatte, und dann an Gorgs Worte, wonach Kelhim, der Bär, schon seit vielen Jahren tot sei.

Vor wie vielen Jahren hatte er aufgehört an Kelhim zu glauben?

Langsam ließ er den zerbrochenen Plastikdrachen wieder in sein Grab zurücksinken, richtete sich auf und sah über den Friedhof seiner Träume, bis sein Blick schließlich an der gemauerten Gruft am Ende der Grabreihen hängen blieb. Er machte einen Schritt und blieb wieder stehen. Sein Herz begann zu klopfen. Er wagte es nicht, weiterzugehen. Er hatte auf dem Friedhof alle seine vergessenen Träume wieder gefunden, Dinge aus seiner frühesten Kindheit, die er längst vergessen gehabt hatte, Märchen, die er geglaubt, Tiere, die er geliebt hatte. Träume lebten nicht ewig. Sie starben, wurden wahr oder vergingen einfach, und hier, an jenem unheimlichen Ort jenseits der Zeit, waren sie begraben. Während der letzten Minuten war er durch seine eigene Vergangenheit gewandert. Was würde ihn erwarten, wenn er die Gruft am Ende des Friedhofes betrat? Die Träume seiner Zukunft, gestorben, bevor sie auch nur geträumt werden konnten?

Immer langsamer werdend legte er die letzten Schritte zurück. Bevor er endlich die Hand ausstreckte, um die Tür zu öffnen, zögerte er sicherlich eine Minute. Sein Herz hämmerte und seine Finger zitterten wie die eines uralten Mannes. Er hatte fürchterliche Angst vor dem, was er sehen mochte.

Die Tür besaß keine Klinke und im Grunde genommen war es nicht einmal eine richtige Tür, eher eine gewaltige, aufrecht stehende Steinplatte, in deren Oberfläche unheimliche, verschlungene Symbole eingraviert waren. Sie musste eine Tonne wiegen, wenn nicht mehr.

Trotzdem bewegte sie sich leicht wie eine Feder, als Kim mit nur zwei Fingern dagegen drückte - was nichts daran änderte, dass sich das Geräusch, das dabei entstand, anhörte, als versuche jemand die Spitze der Cheops-Pyramide wegzuschieben.

Im Inneren der Gruft brannte ein halbes Dutzend rußender Fackeln, aber ihr Licht war weder rot noch gelb, sondern tauchte den asymmetrisch geformten Raum in tausend unterschiedliche Grauschattierungen auf. Er war in einer Schwarzweiß-Welt. Mit klopfendem Herzen drang er Schritt für Schritt weiter in die Gruft ein.

Ihr Inneres bot einen noch viel unheimlicheren Anblick als ihr Äußeres. Die Wände waren dick mit Spinnweben und Staub verkrustet. Spinnen, Asseln und anderes Ungeziefer huschten erschrocken davon, aufgescheucht vom Geräusch seiner Schritte, das die ewige Ruhe der Gruft störte, und in einer Ecke verschwand eine Ratte piepsend in einem Loch. Soweit das unter all dem Staub und verkrusteten Schmutz überhaupt noch zu erkennen war, waren die Wände mit den gleichen sonderbaren Reliefarbeiten geschmückt wie die Tür. Ein seltsamer Geruch lag in der Luft: eine Mischung aus Staub, Moder, Alter und Feuchtigkeit, zudem durchdrungen vom harzigen Brandaroma der prasselnden Fackeln.

Genau in der Mitte der Gruft stand ein gewaltiger, steinerner Sarkophag. Kim näherte sich ihm vorsichtig, mit langsamen, kleinen Schritten. Seine Hände zitterten so stark, dass er sie gegen die Oberschenkel pressen musste, um sich zu beruhigen.

Der Deckel des Sarkophags lag zerbrochen auf dem Boden. Auch er war mit den gleichen Symbolen geschmückt wie alles hier und die Bruchstellen sahen ziemlich frisch aus, als wäre es noch nicht allzu lange her, dass ihn jemand heruntergestoßen hatte. Kim schenkte ihm jedoch nur einen flüchtigen Blick, ehe er sich vorbeugte und unsicher in den Sarkophag hineinsah.

Was immer er auch erwartet hatte, es war nicht darin. Der steinerne Sarkophag war fast zur Hälfte mit Laub, Ästen und Blättern gefüllt, in denen es hier und da raschelte; wahrscheinlich weiteres Ungeziefer, das sich schon durch seine Anwesenheit gestört fühlte. Kim wollte sich schon wieder abwenden, als ihm doch etwas auffieclass="underline" Unter all dem Laub und den Ästen schimmerte etwas.

Zögernd streckte er die Hand aus und grub in dem trockenen Laub. Seine Finger berührten etwas Hartes, Kühles. Er griff entschlossen zu, richtete sich auf und sah ohne die mindeste Überraschung auf eine schimmernde Glaskugel von der Größe eines Tennisballes hinab, die er in der Hand hielt. Sie wurde von einem stilisierten Drachen gehalten und in ihrem Inneren war eine winzige Nachbildung Gorywynns zu sehen. Es war die Glaskugel, die sein Vater Rebekka mitgebracht hatte an jenem Tag, als alles begann. Zum ersten Mal, seit er den Friedhof der Träume betreten hatte, sah er wieder Farben: der Drache, der die Kugel umschlang, schimmerte in mattem Gold, und die winzige Nachbildung der gläsernen Stadt in ihrem Inneren in blassem Rosa, Blau und Grün, den auch in Gorywynn vorherrschenden Farben.

Es war Themistokles' Zauberkugel. Kim zweifelte keine Sekunde daran.

Mit einer entschlossenen Bewegung schob er die Glaskugel in die Tasche, drehte sich herum und verließ die Gruft. Nun, nachdem er gefunden hatte, was zu suchen er hierher gekommen war, wurde es Zeit, von hier zu verschwinden. Er verzichtete darauf, die Tür wieder hinter sich zu schließen, und ging mit schnellen Schritten den Weg zurück, den er gekommen war.

Kim hatte ungefähr die Hälfte der Strecke zurückgelegt, als er ein Geräusch hörte. Es war nicht besonders laut, in der vollkommenen Stille, die auf dem Friedhof herrschte, aber trotzdem nicht zu überhören. Und es war unheimlich: Ein helles Scharren und Kratzen, als führen Fingernägel über altes Holz oder mürbe gewordenen Stein.

Kim sah sich unsicher um, überlegte einen Moment und wandte sich dann nach rechts. Es war wohl so, wie Themistokles gesagt hatte: Das Geräusch machte ihm Angst, aber die schlimmste Furcht, die ein Mensch haben konnte, war noch immer die vor dem Unbekannten. Er musste einfach herausfinden, was diesen Laut verursachte.

Kim ging langsam weiter und nach einigen Augenblicken glaubte er zu wissen, woher das Geräusch kam.

Das unheimliche Kratzen drang aus einem der Gräber, die er noch nicht untersucht hatte.

Wie die meisten Grabstätten war auch diese mit einer schweren Steinplatte verschlossen. Sie war jedoch größer als die meisten und es kostete Kim all seine Kraft, sie zur Seite zu schieben. Er brauchte gute fünf Minuten dazu, und als er es geschafft hatte, sank er schwer atmend und vollkommen erschöpft neben dem Grab auf die Knie.

Abgesehen von seiner Größe unterschied sich das Grab auch noch in anderer Hinsicht von allem anderen: In diesem Grab gab es einen Sarg. Er war uralt, schmucklos und aus schweren, groben Bohlen gefertigt... als hätte jemand ganz sichergehen wollen, dass das, was darin begraben war, auch wirklich darin blieb.