Kim schauderte. Hatte er einen Fehler gemacht? Wenn dies hier der Friedhof der Träume war, wer sagte dann, dass hier nicht auch seine Albträume begraben waren, Dinge, die er mit gutem Grund vergessen hatte und an die er sich ganz bestimmt nicht mehr erinnern wollte?
Das Scharren und Kratzen hielt immer noch an und war jetzt, nachdem er die Grabplatte entfernt hatte, sogar deutlich lauter geworden. Es kam eindeutig aus dem Inneren des Sarges. Kim kam endgültig zu dem Schluss, dass er besser nicht wissen wollte, was die Ursache des unheimlichen Lautes war. Er setzte dazu an, sich aufzurichten und zu verschwinden, so schnell er nur konnte.
In diesem Moment traf ein gewaltiger Schlag den Sargdeckel. Holz splitterte. Ein fingernagelbreiter, gezackter Riss entstand in den Bohlen und Kim erschrak so sehr, dass er mitten in der Bewegung das Gleichgewicht verlor und nach hinten kippte. Noch während er stürzte, ertönte ein zweiter, noch heftigerer Schlag. Der Sargdeckel zersplitterte endgültig und eine gewaltige, mit grauem Lehm verkrustete Faust schoss durch das Loch. Einen Moment später zog sie sich wieder zurück und schlug erneut von innen gegen den Sargdeckel.
Kim keuchte vor Entsetzen und kroch hastig auf Händen und Knien durch den Schlamm davon.
Immer mehr und heftigere Schläge trafen den Sargdeckel. Die Hand erschien erneut, flankiert von einer zweiten, nicht minder großen, die sich beide um den Rand des Risses krallten und das Holz mit einer gewaltigen Kraftanstrengung zerteilte. Kim versuchte verzweifelt schneller zu kriechen, aber der aufgeweichte Morast schien sich plötzlich regelrecht an ihm festzusaugen, als hätte sich sogar die Natur selbst gegen ihn verschworen und versuchte ihn mit aller Macht festzuhalten.
Vor ihm wurde der Rest des Sargdeckels in Stücke gerissen und dann richtete sich ein brüllender Gigant im Inneren des Sarges auf, der Schlamm und Holzsplitter in alle Richtungen schleuderte und mit schweren Schritten aus dem aufgebrochenen Sarg herausstampfte.
Kim schrie in schierer Todesangst auf, hob schützend die Hände vor das Gesicht - und riss verblüfft die Augen auf.
Die Gestalt vor ihm war kein Riese. Und schon gar kein zum Leben erwachter Toter...
Seine Angst hatte die Proportionen verzerrt und ihm etwas vorgegaukelt, was nicht da war. Unter all dem Schmutz und Morast verbarg sich ein Gesicht, das Kim nur zu gut kannte ... »Kai!«, murmelte er.
Obwohl er noch immer vor Wut und Anstrengung keuchte, schien Kai den vertrauten Klang seines Namens verstanden zu haben, denn er drehte sich herum und runzelte die Stirn.
»Woher -?«
Weiter kam er nicht.
Zorn und an Raserei grenzende Wut fegten Kims Furcht einfach beiseite. Mit einem einzigen Satz war er auf den Füßen und stürzte sich auf Kai.
Der junge Steppenreiter versuchte noch die Arme hochzureißen, aber er war viel zu langsam. Kim prallte gegen ihn, riss ihn einfach von den Füßen und begann mit den Fäusten auf ihn einzudreschen. Er traf Kai hart im Gesicht, im Leib und in den Rippen, aber sein Zorn kannte keine Grenzen. Er war nicht so weit gekommen, hatte nicht das Ende der Welt erkundet und sich nicht all seinen gestorbenen Träumen gestellt um sich jetzt noch im allerletzten Moment alles zunichte machen zulassen!
Sein Angriff war so ungestüm, dass Kai in den ersten Sekunden nicht einmal auf die Idee kam, sich zu wehren. Dann aber musste er ihn wirklich hart getroffen haben, denn Kai heulte plötzlich vor Schmerz schrill auf - und in der nächsten Sekunde fühlte sich Kim gepackt und meterweit durch die Luft geschleudert.
Er landete hart auf dem Rücken und blieb eine oder zwei Sekunden liegen um wieder zu Atem zu kommen. Dann aber sprang er mit einem Schrei wieder auf die Füße und warf sich abermals auf seinen Gegner.
Kai, der die Gelegenheit genutzt hatte, ebenfalls aufzustehen, empfing ihn mit einer Bewegung, die Kim nicht einmal richtig sah, die aber zur Folge hatte, dass Kim zum zweiten Mal binnen weniger Sekunden den Boden unter den Füßen verlor und sich mehrmals überschlagend über Kais Kopf hinwegsegelte.
Diesmal war der Aufprall so hart, dass er buchstäblich Sterne sah und mehr als nur ein paar Sekunden benommen liegen blieb.
Als sich seine Sinne wieder klärten, kniete Kai mit einem Bein auf seiner Brust und schnürte ihm damit fast die Luft ab. Die linke Hand hatte er in sein Haar gekrallt und drückte seinen Kopf in den Nacken, die andere hatte er erhoben und auf sonderbare Weise zur Faust geballt. Kim zweifelte nicht daran, dass ein einziger Schlag damit reichen würde ihm das Genick zu brechen.
Kai zögerte aber. Sein Blick glitt über Kims Gesicht und ein nachdenklicher, gleichzeitig aber auch leicht verwirrter Ausdruck erschien auf seinen Zügen.
»Worauf wartest du?«, fragte Kim trotzig. Er hatte Mühe, überhaupt zu sprechen. »Mach endlich Schluss!«
Kai machte nicht Schluss. Ganz im Gegenteil. Er ließ plötzlich Kims Haar los, zögerte noch einen Moment und richtete sich dann auf. Kim sog erleichtert die Luft in die Lungen und Kai sagte nachdenklich: »Ich ... kenne dich ... oder?«
»Du wirst mich gleich richtig kennen lernen!«, knurrte Kim.
Er trat nach Kai. Der junge Steppenreiter fing seinen Fuß mit einer fast spielerischen Bewegung auf und verdrehte ihn so, dass Kim vor Schmerzen aufschrie, bevor er ihn wieder losließ, und sagte: »Sei so gut und hilf mir auf die Sprünge. Wo haben wir uns schon einmal gesehen?«
Kim rappelte sich mühsam auf, starrte Kai finster an und schoss eine rechte Gerade nach seinem Kinn ab, in die er all seine Kraft legte.
Diesmal landete er mit dem Gesicht voran im Morast und richtete sich hustend und spuckend wieder auf. Noch in der Bewegung wirbelte er herum und versuchte Kai die Handkante gegen den Kehlkopf zu schmettern, und noch während er durch die Luft segelte und betete, nicht mit dem Kopf gegen einen Stein zu prallen, sagte Kai: »He! Jetzt erinnere ich mich! Du bist der Junge, den wir an jenem Abend im Elfenwald gefunden haben, stimmt's?«
Kim richtete sich hustend und spuckend wieder auf, wischte sich den Schlamm aus den Augen und zog sein Schwert. Wenn Kai es auf die harte Tour haben wollte - nun gut!
Kai machte sich nicht die Mühe, sein eigenes Schwert zu ziehen. Stattdessen griff er blitzschnell nach Kims Schwert.
»Wieso bist du so schnell verschwunden?«, fragte er. »Ich hätte mich gerne noch ein wenig mit dir unterhalten, weißt du?« Er drehte das Schwert in den Händen. »Eine schöne Waffe. Aber sei vorsichtig damit. So etwas ist kein Spielzeug, weißt du? Man kann sich ziemlich übel damit verletzen.«
»Warum verhöhnst du mich auch noch?«, fragte Kim schwer atmend. »Wenn du mich umbringen willst, dann tu es! Aber mach dich nicht noch über mich lustig!«
»Dich umbringen?« Kai schüttelte den Kopf - und reichte ihm sein Schwert zurück! »Warum sollte ich das tun? Du hast mir nichts getan. Im Gegenteil ...« Er deutete auf das offene Grab, aus dem er herausgekommen war. »So, wie ich die Sache sehe, hast du mich gerettet.«
Kim griff verwirrt nach dem Schwert, drehte es einen Moment lang hilflos in den Händen und schob es dann in die Scheide an seinem Gürtel zurück. Spielte Kai nun ein besonders grausames Spiel mit ihm oder konnte es wirklich sein, dass ...
»Willst du mich verarschen?«, fragte er düster.
Kai sah ihn mit überzeugend gespielter Verwirrung an. »Ich weiß nicht, was dieses Wort bedeutet«, sagte er, »aber ich glaube, die Antwort lautet nein.«
Kim spuckte noch einen Rest Schlamm aus, bevor er fortfuhr: »Wie kommst du hierher?«
»Wenn ich das wüsste!«
»Dann erzähl mir bitte noch einmal, was das Letzte ist, woran du dich erinnerst«, verlangte Kim.
»Erzähl du mir doch erst einmal -«
Kim hob die Hand. »Es ist einfacher so herum«, sagte er. »Glaub mir. Du kannst dich nicht erinnern, dass wir uns noch ein paar Mal begegnet sind? Am Fluss und später in Gorywynn, in Themistokles' Palast?«