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»Warte!«, unterbrach ihn Kim. Er löste den Bogen von der Schulter und streckte die Hand aus. »Ich brauche einen Pfeil.« Mehr als ein Dutzend Pfeile wurden ihm hingehalten. Während Kim einen davon nahm und auf die Sehne legte, starrte ihn Kai aus großen Augen an. »Was hast du vor?«

»Die Kanonen«, antwortete Kim. »Es sind Dampfkanonen, stimmt's?« Kai nickte. »Erklär mir, wie sie funktionieren! Wie sind sie konstruiert? Schnell!«

»Es ist ein großer Kessel, in dem Wasser erhitzt wird«, antwortete Kai. »Wenn der Druck hoch genug ist, löst er ein Überdruckventil aus und die Kugel wird abgeschossen.«

»Ein Ventil?« Kim spürte, wie der Pfeil in seiner Hand zu vibrieren begann.

»Ja, zum Teufel, aber was hast du vor?«, antwortete Kai aufgebracht. »Du willst doch nicht auf sie schießen? Kein Bogen auf der Welt trägt so weit!«

»Dieser schon«, antwortete Kim. Eine weitere Kanonenkugel schlug in ihrer Nähe ein. Kim duckte sich, wartete mit zusammengebissenen Zähnen, bis der Regen aus Steinbrocken und Schrapnellsplittern aufhörte, richtete sich dann wieder auf und ließ den Pfeil fliegen praktisch ohne zu zielen.

»Was tust du da?!«, schrie Kai noch einmal.

Kim antwortete gar nicht, sondern legte rasch einen weiteren Pfeil auf die Sehne und ließ ihn fliegen.

Als er den dritten Pfeil abschoss, schlug eine Kanonenkugel so dicht neben ihm ein, dass sich sein Pferd aufbäumte und sicherlich durchgegangen wäre, hätte es nur genug Platz dazu gehabt. Kim wurde nach hinten und gleich darauf mit solcher Wucht nach vorne geworfen, dass er sich nur noch mit Mühe im Sattel halten konnte und den Bogen fallen ließ.

»Du Dummkopf!«, schrie Kai. Er hatte einen Splitter abbekommen und blutete aus einer kleinen Schnittwunde an der Stirn. »Was soll das? Wir verlieren nur Zeit!«

Ein gewaltiger Knall schnitt ihm das Wort ab. Sie alle fuhren in den Sätteln herum und sahen gerade noch, wie eine der Zwergenkanonen oben auf dem Hügel in einer gewaltigen Explosion auseinander flog. Kais Augen quollen vor Unglauben fast aus den Höhlen.

Kim grinste. »Dampfmaschinen sind eine praktische Sache«, sagte er. »Aber nicht ungefährlich. Vor allem, wenn das Ventil verklemmt ist.«

Er beugte sich im Sattel zur Seite, angelte nach seinem Bogen und ließ sich einen weiteren Pfeil reichen.

Kai starrte den schwarzen Bogen in seiner Hand an. Oben auf dem Hügel explodierte die zweite Kanone und Kim grinste noch breiter: »Sagte ich schon, dass Magie manchmal ganz nützlich sein kann?«

Die dritte Kanone explodierte und Kim spannte den Bogen und wollte sich auf das Bild des Überdruckventils konzentrieren, als er einen mahnenden Blick aus Themistokles' Augen auffing. Der Magier schüttelte fast unmerklich den Kopf.

Verwirrt ließ Kim den Bogen wieder sinken.

»Worauf wartest du?«, fragte Kai. »Da ist immer noch eine Kanone!«

Bevor Kim antworten konnte, kam hinter ihnen ein gewaltiger Lärm auf. Hastig drehte er sich im Sattel herum.

Ein Trupp von gut hundert Reitern sprengte den gleichen Hügel herab, den auch sie vor gut zehn Minuten heruntergekommen waren. Die meisten von ihnen waren weiß gekleidet und nicht besonders groß. Eine weiße Fahne mit zwei schlichten, grünen Dreiecken flatterte über ihnen im Wind. Angeführt wurde die Truppe von Kais Doppelgänger, der seinerseits von vier in zerbeultes schwarzes Eisen gehüllten Gestalten flankiert wurde. Hatte der Magier der Zwei Berge erkannt, dass sein Plan nicht aufgehen würde, und versuchte die Situation nun in einem Verzweiflungsangriff zu retten?

Eine Sekunde später beantwortete Kim seine eigene Frage mit einem klaren Nein.

Kais Reiter kamen nicht freiwillig den Hügel herab. Sie griffen auch nicht an. Sie wurden gejagt.

Der Skull war hinter ihnen aus dem Unterholz gebrochen und raste wie ein zum Leben erwachter Albtraum hinter den Reitern her.

Der Anblick war so Grauen erregend, dass die gesamte Schlacht für einen Moment ins Stocken geriet. Dann erhob sich ein erschrockener Aufschrei aus Tausenden von Kehlen und aus der Schlacht wurde endgültig eine panische Flucht. Der Anblick der gigantischen, fahlen Bestie reichte aus, die Furcht selbst in die Herzen der Tapfersten zu tragen.

Die Reiter und das sie verfolgende Ungeheuer rasten weiter heran. Die Zwerge versuchten zur Seite zu weichen, um nicht einfach über den Haufen geritten zu werden, hatten aber auch dafür nicht den nötigen Raum. Kais Reiter krachten wie eine einzige, kompakte Masse in das Zwergenheer und verkeilten sich regelrecht darin.

Nur einen Moment später war der Skull heran.

Das Ungeheuer machte keine Anstalten, sein Tempo zu mindern, sondern raste einfach in das Heer aus Reitern und Zwergen hinein, wobei es mehr als ein Dutzend von Kais jungen Kriegern und zahlreiche Zwerge zu Boden riss oder kurzerhand unter sich begrub. Dann brach am Fuße des Hügels ein verzweifelter, wenn auch hoffnungsloser Kampf aus. Zwerge und Reiter, die keine Möglichkeit zur Flucht mehr hatten, wandten sich um und griffen den Skull an.

Dutzende von Speeren und Pfeilspitzen zerbrachen an den gepanzerten Flanken des Skull. Schwerter zersplitterten wie Glas, Keulen prallten wirkungslos von der blassen Haut des Monsters ab. Die Zwerge warfen sich mit dem Mut der Verzweiflung auf den Koloss und strömten wie kleine, schwarze Ameisen über seinen gewaltigen Körper, versuchten mit Schwertern, Messerspitzen und Speeren eine Lücke in seiner Panzerung zu finden und wurden abgeworfen, als sich das Ungeheuer zischend aufbäumte. Oben auf dem Hügel feuerte die letzte Zwergenkanone, aber auch die Kugel prallte wirkungslos vor dem Ungeheuer ab, riss aber noch einige weitere Zwerge und zwei von Kais Reitern zu Boden.

Auch Kim hob seinen Bogen und schoss. Er hatte auf das linke Auge des Skull gezielt und der Pfeil traf auch, prallte aber ebenso ergebnislos ab wie alles andere. Der Skull arbeitete sich wütend und beharrlich durch das Heer, wobei er eine Spur der Vernichtung hinter sich herzog. Er wurde jetzt ununterbrochen angegriffen. Tausende von Pfeilen regneten auf ihn herab und die Dampfkanone der Zwerge schoss, so schnell es ihre Konstruktion zuließ. Nichts von alledem vermochte das Ungeheuer aufzuhalten.

Und endlich begriff Kim.

»Er kommt hierher«, murmelte er. »Er ... er will mich!«

Einen Moment lang fragte er sich verblüfft, wieso es ihm nicht gleich aufgefallen war. Der Skull war bisher stets nur dann aufgetaucht, wenn er in der Nähe gewesen war. Was, so fragte er sich, wenn dieses Ungeheuer tatsächlich nur aus diesem einen Grund erschienen war, nämlich um ihn zu vernichten?

Die Antwort war ganz einfach, aber fürchterlich: Dann wäre das alles hier seine Schuld ...

»Nur über meine Leiche!«, grollte Kai. »Ich werde -«

»Gar nichts wirst du«, unterbrach ihn Themistokles. Kim sah überrascht auf, als er seine Stimme hörte. Jegliche Spur von Schwäche war daraus verschwunden, und als er sich zu Themistokles umdrehte und ihn ansah, da blickte er auch wieder ins Gesicht des alten, weisen Magiers, in dessen Händen das Schicksal ganzer Welten lag.

»Du wirst dich zurückhalten, Kai«, fuhr er ruhig fort. »Ein Schwert mehr oder weniger macht keinen Unterschied, aber du bist der Einzige, der den Betrüger entlarven kann. Wir kümmern uns um das Ungeheuer.«

»Du verlangst von mir, dass ich tatenlos zusehe, wie ihr in den Kampf zieht?« Kai klang empört. »Ich bin kein Feigling, alter Mann!«

»Manchmal gehört eine Menge Mut dazu, feige zu sein«, lächelte Themistokles. »Warte hier auf uns. Und ... du solltest dich tarnen. Viele unserer Krieger sind etwas irritiert, dich zweimal zu sehen.«

Kim blickte sich um. Themistokles hatte Recht. Kais Doppelgänger war mittlerweile nahe genug herangekommen um wirklich von jedermann in Wolfs Heer erkannt zu werden. Mochten die Krieger bisher noch geglaubt haben, dass sich Kai - warum auch immer - im letzten Moment doch noch auf ihre Seite geschlagen hatte, so musste sie der Anblick eines gleich zweimal vorhandenen Kai vollkommen verwirren.