»Mein Gott«, murmelte Themistokles. »Ich habe ihn unterschätzt! Es ... es tut mit so Leid! Was habe ich getan?«
Kim verstand nicht, was Themistokles damit meinte, und jetzt war auch nicht der Moment, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Hastig grub er die Zauberkugel aus der Tasche und reichte sie Themistokles.
»Hier«, sagte er. »Vielleicht reicht das, um deine Kräfte wieder zu erneuern!«
Themistokles blickte die Kugel einen Moment lang so verwirrt an, als wisse er überhaupt nicht, um was es sich dabei handle, geschweige denn, was er damit anfangen sollte.
»Oh«, sagte er dann, »du hast sie gefunden. Aber ich fürchte, so funktioniert das nicht.«
Und damit gab er dem vollkommen überraschten Kim die Kugel zurück.
Ein gewaltiger Schatten senkte sich über sie. Kim hob erschrocken den Kopf und sah, wie sich zwei gewaltige, weit geöffnete Kieferzangen auf ihn herabsenkten. Er schrie auf, ließ die Zauberkugel fallen und warf sich zur Seite. Aber er spürte selbst, dass die Bewegung viel zu langsam war.
Eine halbe Sekunde, bevor die Zangen zuschnappen konnten, schoss ein silberweißes Gespinst heran und klebte sie zusammen. Es bereitete dem Skull keine Mühe, die Fäden zu zerreißen, aber Kim gewann dadurch die eine kostbare Sekunde, um sich zur Seite zu werfen und den zuschnappenden Zangen zu entgehen. Er kam mit einer Rolle wieder auf die Füße, stolperte noch ein paar Schritte weiter und fuhr dann wieder zu dem Skull herum.
Die Kreatur war für einen Moment erstarrt. Sie wirkte fast irritiert, als verstünde sie nicht, wie ihr ein schon so sicher geglaubtes Opfer doch noch hatte entkommen können. Dann senkte sich sein gewaltiger Schädel langsam auf Themistokles hinab. Die schrecklichen Kiefernzangen öffneten sich. Themistokles riss schützend die Hände vor das Gesicht, aber alles, was noch aus seinen Fingerspitzen kam, waren ein paar jämmerliche Funken. Seine Kräfte waren endgültig aufgebraucht. »Nein!«, schrie Kim und dann mit vollem Stimmaufwand: »Nein, du Ungeheuer! Ich bin hier! Nimm mich!«.
Der Skull wandte mit einem zischenden Knurren den Kopf. Sein Blick bohrte sich in den Kims und seine gewaltigen Kiefer öffneten sich. Ein tiefes, drohendes Knurren drang aus seiner Brust. Es verlor schlagartig das Interesse an Themistokles und begann sich auf Kim zuzubewegen.
Kim riss seinen Bogen in die Höhe und schoss. Auf dem Hügel stieß die Zwergenkanone eine weitere, zischende Dampfwolke aus und die Kugel traf den Schädel der Bestie und zerschmetterte einen weiteren Teil der Panzerplatten. Wolfs Krieger und Kais Steppenreiter attackierten die Bestie. Schulter an Schulter krochen Hunderte von Zwergen über den riesigen Leib des Skull und hackten und schlugen auf ihn ein. Twix tauchte wie aus dem Nichts auf und bombardierte den Skull mit goldenem Elfenstaub und die Spinne gesellte sich zu Kim und schoss dünne, klebrige Fäden ab, um seine Zangen zu fesseln oder ihn zum Stürzen zu bringen. Selbst der Pack war plötzlich wieder da und bewarf den Koloss mit Steinen und nur ein Stück entfernt schwang Gorg seine riesige Keule. Jeder Einzelne seiner gewaltigen Hiebe ließ Panzerplatten zerbersten und fügte dem Skull neue, fürchterliche Wunden zu, aber nichts, nichts von alledem vermochte das Ungeheuer aufzuhalten. Unerbittlich rückte er näher.
Kim wich Schritt für Schritt vor dem Monster zurück und verschoss dabei einen Pfeil nach dem anderen, bis sein Köcher leer war.
Ihm blieb keine Zeit, sich nach einem neuen Pfeil zu bücken. Er ließ den Bogen fallen und zog stattdessen sein Schwert und eine Gestalt in einem lächerlich kleinen Cape, dafür aber mit einem umso gewaltigeren Schwert in der Hand, erschien neben ihm.
»Ich bin hier! Nimm mich!«, äffte Kai seine Worte nach. »Wie edelmütig!«
»Was tust du hier?«, fragte Kim. »Willst du, dass er dich umbringt?«
»Wenn wir dieses Biest nicht besiegen, dann spielt das wohl kaum noch eine Rolle!«, knurrte Kai. »Also los! Versuch seine Augen zu treffen! Und nimm dich vor den Scheren in Acht!«
Der Skull raste heran. Kim und Kai hoben ihre Schwerter und eine Sturmböe fauchte zwischen ihnen hindurch und riss sie beinahe von den Füßen, gefolgt von einem so kalten, gleißenden Blitz, dass sie beide vor Schmerz aufschrien, die Hände vor die Gesichter schlugen und ein paar Schritte in entgegengesetzter Richtung davontaumelten.
Als Kim wieder sehen konnte, bot sich ihm ein erstaunlicher Anblick.
Dort, wo Kai und er gerade noch gestanden hatten, brodelte eine schwarzgraue Wolke, in der es ununterbrochen loderte und wetterleuchtete. Sie sah tatsächlich aus wie eine Gewitterwolke, nur dass sie nicht am Himmel schwebte und allerhöchstens zwei Meter maß.
Und aus dieser Wolke fuhr Blitz auf Blitz in den Skull. Wo sie die Panzerplatten der Kreatur trafen, da ließen sie sie regelrecht verdampfen. Das Ungeheuer schrie. Die Blitze brannten schwarze, gezackte Rußspuren in seinen Panzer, blendeten seine Augen und schmolzen seine Scheren zusammen. Eine ununterbrochene Folge rollender Donnerschläge mischte sich in das Zischen der Blitze und übertönte das Brüllen des Skull. »Anscheinend ist dem alten Mann doch noch etwas eingefallen!«, schrie Kai über das Brüllen des Sturms und das Rollen der Donnerschläge hinweg.
Kim sah zu Themistokles hin. Der alte Magier hatte sich aufgerichtet und sogar die Zauberkugel aufgehoben, die Kim fallen gelassen hatte. Aber als sich ihre Blicke begegneten, hob er nur hilflos die Schultern. Themistokles war nicht für das verantwortlich, was mit dem Skull geschah.
Er drehte sich in die entgegengesetzte Richtung und erkannte Sturm, der nur wenige Schritte hinter der brodelnden Wolke stand und so breit grinste, dass er sich wahrscheinlich mit Leichtigkeit in die eigenen Ohrläppchen hätte beißen können.
Kim lief geduckt und schräg gegen den Sturm gelehnt zu ihm. »Was ist das?«, schrie er über das Krachen der Donnerschläge und das unablässige Zischen der Blitze hinweg. »Noch ein Abschiedsgeschenk deiner Mutter, von dem dein Vater nichts weiß?«
»Nein!«, brüllte Sturm zurück. »Ein Abschiedsgeschenk meines Vaters, von dem meine Mutter nichts weiß!«
Noch immer fuhren Blitze in rascher Folge in den Panzer des Skull, so grell, dass Kim die Augen zukniff und sich abwandte. Es waren jetzt nicht mehr ganz so viele und ihre Intensität nahm immer deutlicher ab, aber der Kampf war entschieden. Nachdem der letzte Blitz verblasst war, wandte der Skull sich um und begann mühsam davonzukriechen, wobei er leise, wimmernde Seufzer hören ließ. Er hatte jedoch von seinen Gegnern nicht mehr Gnade zu erwarten, als er selbst hatte walten lassen. Unter gellendem Kriegs- und Hurragebrüll stürzten sich Hunderte von Zwergen auf den Skull, unterstützt von zahlreichen Steppenreitern und nicht weniger von Wolfs Kriegern. Auch Kims Begleiter wollten hinter der fliehenden Bestie herstürzten, aber Kim hielt sie mit einer raschen Bewegung zurück - alle mit Ausnahme der Spinne, die auf wirbelnden Beinen hinter dem Skull herflitzte.
Langsam kamen Themistokles, Gorg und der Pack auf ihn zu. Twix landete taumelnd auf seiner Schulter. Sie sah abgekämpft und reichlich mitgenommen aus. Ihre Flügel waren angesengt und ihr Gesicht schwarz vor Ruß. Trotzdem strahlte sie geradezu.
»Dem haben wir es gegeben, wie?«, piepste sie. »Dem Kerl haben wir richtig eingeheizt.« Sie blinzelte Sturm zu. »Gar nicht schlecht, Pickelgesicht!«
»Das war nicht allein mein Verdienst«, antwortete Sturm mit schlecht gespielter falscher Bescheidenheit.
»Wir haben es alle gemeinsam geschafft«, sagte Themistokles, der langsam herankam. Er trug die Zauberkugel in der rechten Hand. »Keiner von uns wäre allein dazu in der Lage gewesen, mit dem Skull fertig zu werden. Weder ihr noch ich noch die Zwerge oder Wolfs oder Kais Reiter. Nur wir alle gemeinsam konnten es.« Und plötzlich geschah etwas fast Unheimliches: Themistokles hob weder die Stimme noch sprach er auch nur im Geringsten lauter. Und trotzdem war seine Stimme plötzlich überall auf dem Schlachtfeld zu hören und in allen Sprachen, welche die unterschiedlichen hier versammelten Völker auch sprechen mochten.