»Es ist genug!«, erklang die Stimme des Magiers. »Haltet mit dem sinnlosen Blutvergießen inne.«
So weit Kim sehen konnte, vergoss im Moment niemand Blut. Die Schlacht war zum Erliegen gekommen oder legte zumindest eine Atempause ein.
»Dieser Kampf ist sinnlos!«, fuhr Themistokles fort. »Es ist nicht nötig, dass wir uns gegenseitig töten! Diese Welt ist groß genug für uns alle! Und wir brauchen uns gegenseitig. Zu dringend, als dass wir uns bekämpfen dürften! Seht, was gerade geschehen ist! Wir haben einer gewaltigen Gefahr ins Auge gesehen, vielleicht der größten, die den Völkern Märchenmonds jemals gedroht hat!«
Kim konnte spüren, wie sich alle Aufmerksamkeit auf den alten, weiß gekleideten Magier richtete. Und dann spürte er ... noch etwas. Nicht das Vorhandensein, sondern im Gegenteil die Abwesenheit von etwas, das die ganze Zeit über unsichtbar und dräuend über dem Schlachtfeld gehangen hatte. Die Feindseligkeit war nicht mehr da - als wäre zusammen mit dem Skull auch jene unsichtbare böse Macht verschwunden, die jedermann auf dem Schlachtfeld gezwungen hatte das Schwert gegen seinen Bruder zu erheben.
Nachdem Themistokles geendet hatte, kehrte für Augenblicke ein fast unheimliches Schweigen ein. Dann ertönte hinter ihnen ein leises, regelmäßiges Klatschen.
Kim drehte sich herum.
Kai - der falsche Kai - war zusammen mit seiner Schwarzen Garde und einem guten Dutzend weiterer Krieger hinter ihnen erschienen. Er lächelte Themistokles aus der Höhe des Sattels herab zu und klatschte dabei spöttisch in die Hände.
»Eine wirklich beeindruckende Rede, alter Mann«, sagte er hämisch. »Hättest du auch nur noch zwei Minuten weiter gesprochen, dann wären mir die Tränen gekommen. Nur war sie leider völlig umsonst, fürchte ich. Was für eine Verschwendung.«
Kim sah aus dem Augenwinkel, wie sich der richtige Kai neben ihm spannte und die Hand hob, um seine Kapuze zurückzuschlagen. Hastig drückte er seinen Arm herunter und flüsterte: »Noch nicht.« Kai ließ den Arm wieder sinken. »Gib auf, Kai«, sagte Themistokles. »Es ist vorbei. Es gibt für keinen von uns mehr einen Grund, gegen den anderen zu kämpfen.« Während er sprach, hatte er sich unauffällig weiter an Kim angenähert. Und dann tat er etwas, was Kim nicht verstand: Er drückte ihm verstohlen die Zauberkugel wieder in die Hand.
Kim war so überrascht, dass er sie um ein Haar fallen gelassen hätte. Was um alles in der Welt tat Themistokles? Er verbarg die Zauberkugel hastig in der Hand, verstand aber immer weniger, was Themistokles zu diesem Austausch bewogen hatte. Hatte er die Zauberkräfte, die in der Zauberkugel gespeichert gewesen waren, gar schon wieder in sich aufgenommen? »Es hat schon zu viele Tote gegeben, Kai«, sagte Themistokles. Kai lachte. »Auf unserer Seite - sicherlich. Auf eurer ...?« Er hob die Schulter und lachte noch lauter. Kim spürte, wie der echte Kai neben ihm am ganzen Leib zu zittern begann. Er fragte sich, wie lange er sich noch beherrschen würde.
»Es ist vorbei, Kai«, sagte Themistokles noch einmal, wobei er den Namen auf so sonderbare Weise betonte, dass der Doppelgänger eigentlich hätte gewarnt sein müssen. »Sieh das endlich ein! Auch deine jungen Krieger sind des Kämpfens müde.«
Kim ließ seinen Blick über die Gesichter der Reiter rechts und links des vermeintlichen Kai schweifen. Was er sah, bestätigte Themistokles' Worte nur zu sehr. Viele von ihnen waren verletzt und alle wirkten müde und auf eine Art erschöpft, die sich nicht nur auf ihre Körper bezog. Und in fast allen Gesichtern hatte sich eine Mischung aus Furcht und Grauen eingegraben, die vielleicht nie wieder ganz daraus verschwinden würde. Für viele - wenn nicht alle - dieser jungen Krieger war es die erste wirkliche Schlacht, an der sie teilgenommen hatten, und viele standen wohl noch immer unter dem Schock des Erlebten. Es mochte noch eine geraume Weile dauern, bis sie wirklich begriffen, was Krieg bedeutete: nämlich Furcht, Schreie, Blut und Schmerzen, Tränen und vor allem Tod. Und er hatte nichts, aber auch rein gar nichts mit heroischen Schlachten und ritterlichen Kämpfen zu tun.
»Vielleicht hast du sogar Recht«, sagte der falsche Kai. »Wie gut, dass ich nicht auf sie angewiesen bin, nicht wahr?«
Er hob seine Fahne und schwenkte sie zweimal und wie hingezaubert erschienen auf den Hügeln, die das Tal umgaben, die Silhouetten zahlloser Reiter. Ihre aufgestellten Lanzen waren wie ein dichter Zaun, der das gesamte Tal umgab. Es mussten Tausende sein. Der angebliche Kai hatte tatsächlich seine gesamte Armee mitgebracht. Er war wohl entschlossen, hier und jetzt eine Entscheidung zu erzwingen.
Kim schauderte vor Furcht. Neben ihm begann Kai immer heftiger zu zittern und selbst der Pack, den sonst nichts zu erschrecken vermochte, drückte sich aufgeregt schnatternd an ihn. Gorg stellte sich mit hoch erhobenem Schild und fest ergriffener Keule neben Themistokles.
Themistokles hob die Stimme, sodass sie nun wieder überall zu hören war; auch und vor allem oben auf den Hügeln. »Der Krieg ist vorbei!«, rief er. »Senkt die Waffen!«
Der angebliche Kai lachte leise. »Gib dir keine Mühe, alter Mann«, sagte er. »Sie werden nicht auf dich hören.«
»Das glaube ich auch«, sagte der echte Kai links neben Kim. »Aber vielleicht auf mich.«
Und damit schlug er die Kapuze zurück.
Zwei, drei Sekunden lang herrschte vollkommenes Schweigen. Kim konnte sehen, wie sich auf den Gesichtern der jungen Krieger Schreck, Verwirrung und hier und da auch Zorn breit machte. Das überhebliche Lächeln blieb noch für einen Moment auf dem Gesicht des falschen Kai, aber es gefror und wurde dann zu etwas anderem, das Kim nicht richtig beschreiben konnte.
Schließlich nickte der falsche Kai. »Mein Kompliment, Themistokles. Ich gestehe es nicht gerne, aber ich habe Euch unterschätzt... Und das, obwohl ich Euch nun wirklich lange genug kenne.«
»Ich muss Euch auch ein Kompliment machen«, sagte der echte Kai eisig. »Ihr habt meine Rolle wirklich perfekt gespielt. Selbst meine eigenen Leute sind auf Euch hereingefallen. Ihr wart eine würdige Vertretung.«
»Das war wahrlich nicht sehr schwer«, sagte der falsche Kai abfällig.
Kais Gesicht verfinsterte sich noch weiter. »Warum steigst du dann nicht von deinem Pferd und wir finden heraus, ob du auch in anderer Beziehung so gut bist wie ich?«
Er zog sein Schwert.
Augenblicklich zückten auch die vier schwarzen Ritter neben dem falschen Kai ihre Waffen, aber sie führten die Bewegung nicht zu Ende. Schwerter wurden gezogen, Lanzen gesenkt - und alle Waffen deuteten ausnahmslos auf die vier in schwarzes Eisen gehüllten Ritter und ihren Herrn.
»Aufhören!«, donnerte Themistokles. »Ich sagte, der Kampf ist vorbei! Und das gilt auch für euch!« Er wandte sich an Kai. »Steck dein Schwert ein.«
»Aber ich -«
»Du solltest froh sein, dass er deine Herausforderung nicht angenommen hat, Jungchen«, grollte Gorg. »Er hätte dich in Stücke gehauen!«
Kai senkte sein Schwert, steckte es jedoch nicht ein, sondern behielt es in der Hand und starrte den Riesen trotzig an und sein Ebenbild sagte: »Wenigstens einer, der meine Fähigkeiten noch zu schätzen weiß. Ich überlege, ob ich dich am Leben lasse und dich zu meinem Leibwächter mache, wenn das alles hier vorbei ist. Würde dir das gefallen, mein großer, tölpelhafter Freund?«
Gorg knurrte vor Zorn und machte einen Schritt auf ihn zu, bevor Themistokles ihn mit einer raschen Handbewegung wieder zum Stehen brachte.