Spät am Nachmittag zogen die Zwerge ab. Das kleine Volk hatte seine Toten begraben und die Verwundeten versorgt, so gut es ging, und anschließend die Überreste der zerstörten Dampfkanonen auf große, von Ochsen gezogene Karren verladen, um ihrer Wege zu gehen. Kim hatte ein halbes Dutzend Mal versucht, mit den Zwergen zu reden, aber wo immer er auch hingegangen war, er war überall auf dasselbe gestoßen: Ablehnung und Hass. Der Gedanke tat weh, aber er musste sich wohl damit abfinden: Für die Zwerge Märchenmonds würde er nie der strahlende Held sein, den die anderen Völker dieser Welt in ihm sahen, sondern das Gegenteiclass="underline" der, dessen Namen sie am meisten von allen hassten. Der für Furcht, Zerstörung und Untergang stand. Er verstand immer weniger, wie Männer wie Turock - aber auch alle anderen Herrscher, die ihr Reich auf Furcht und Terror gründeten - mit diesem Gefühl leben konnten. Während er dem abziehenden Zwergenvolk zusah, füllten brennende Tränen seine Augen. Er schämte sich ihrer nicht.
»Sei nicht traurig, kleiner Held«, sagte eine tiefe Stimme hinter ihm. »Man kann nicht immer gewinnen, weißt du?«
Kim drehte sich herum und erkannte durch einen Schleier von Tränen eine riesige, breitschultrige Gestalt hinter sich, die wie ein Berg gegen das Sonnenlicht aufragte.
Er fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen und aus dem kolossalen Schatten wurde die vertraute Gestalt des Riesen Gorg.
»Aber es wäre schön«, sagte er leise.
»Ja«, erwiderte Gorg. »Doch so ist das Leben nun einmal nicht. Du kannst nicht gewinnen, ohne dass ein anderer verliert ... Davon abgesehen: Wenn ich mich nicht sehr täusche, haben wir gewonnen.«
»Aber um welchen Preis!«
Gorg hob die Schultern. Es war, als bewege sich ein Berg am Horizont. Er antwortete nicht direkt, sondern wechselte das Thema. »Themistokles möchte dich sehen«, sagte er. »Er ist in seinem Zelt.«
Kim folgte ihm ohne ein weiteres Wort. Während sie durch die kleine Zeltstadt gingen, die die Krieger der beiden nunmehr wieder vereinten Heere aufgebaut hatten, ließ er seinen Blick in die Runde schweifen.
Wohin er auch blickte, er sah überall dasselbe: müde, verhärmte Gesichter, Augen, von denen der Schrecken Besitz ergriffen hatte, Hände, die vielleicht nie wieder aufhören würden zu zittern. Die Schlacht war vorbei. Sie hatten gesiegt, ganz egal, von welchem Standpunkt aus man es betrachtete, und ihre eigenen Verluste waren geradezu lächerlich, verglichen mit denen des Zwergenheeres.
Aber war ein Toter wirklich weniger schlimm als hundert?
Kim war regelrecht froh, als sie Themistokles' Zelt erreichten und eintraten.
Der Magier war nicht allein. Kims Augen, an das helle Sonnenlicht draußen gewöhnt, nahmen in ersten Moment nichts als Schatten wahr, aber nachdem sie sich erst einmal an die veränderten Verhältnisse gewöhnt hatten, erkannte er mehrere verschwommene Umrisse. Und was seine Augen nicht sahen, das verrieten ihm seine Ohren: Offenbar waren sie mitten in einen Streit hineingeplatzt.
»... bedeutet noch lange nicht, dass wir jetzt unsere Sachen packen und nach Hause gehen, als wäre nichts geschehen!«, sagte Kai gerade.
»Was für ein nach Hause?«, fragte Wolf böse. »Ihr habt kein Zuhause mehr, du dummer Bengel, wenn ich dich daran erinnern darf! Ihr habt es eigenhändig niedergebrannt!«
Kai wollte auffahren, aber Themistokles hob besänftigend, gleichzeitig auch auf eine zwingende Art befehlend die Hand und sagte: »Genug. Der Krieg ist vorbei. Niemand von uns wird ihn fortführen - auch nicht mit Worten.«
»Ihr habt gut reden, Themistokles!«, sagte Kai zornig.
Wenigstens, dachte Kim, nannte er ihn nicht mehr verächtlich alter Mann. »Ihr kehrt zurück in Euren Palast, wo Ihr der Herr seid und wo Ihr leben könnt, wie es Euch gefällt. Wir aber müssen zurück und leben -«
»- wie es richtig ist!«, fiel ihm Wolf ins Wort. »Du und deine Freunde, ihr wollt leben, wie es euch gefällt? Nur zu! Seht euch um! Tritt einen Schritt aus dem Zelt und wirf einen Blick in die Runde und du wirst sehen, was das Ergebnis ist! Chaos, Tränen und Tote!«
»Und du -«
»Hört auf!«, sagte Kim. Er hatte scharf, befehlend sprechen wollen, aber seine Stimme klang selbst in seinen eigenen Ohren nur müde.
Trotzdem verstummten sowohl Kai als auch Wolf mitten in ihrem Streit und sahen ihn fragend an. Kim trat langsam näher. Seine Augen hatten sich nun besser an das schwache Licht im Inneren des Zeltes gewöhnt und er sah, dass außer Themistokles, Kai und Wolf auch noch Turock anwesend war. Der Magier der Zwei Berge hockte mit angezogenen Knien und gefesselten Händen auf dem Boden und sah mit steinernem Gesicht zu ihm hoch. Der Pack saß neben ihm. Als er Kims Blick begegnete, senkte er ängstlich den Kopf und stieß ein leises Wimmern aus.
»Bitte, hört auf«, sagte Kim noch einmal. »Habt ihr denn gar nichts gelernt? Dieser Krieg hätte euch allen um ein Haar den Untergang gebracht!«
»Und du meinst, irgendetwas würde besser, wenn er vollkommen umsonst war?«, fragte Kai zornig.
»Kriege sind niemals umsonst«, antwortete Kim. »Sie zerstören Träume. Und sie verschwenden Leben!«
Wolf runzelte nur die Stirn, aber Kai verzog verächtlich das Gesicht. Turock lachte.
»Weise gesprochen, mein junger Freund«, sagte er. »Nur leider völlig umsonst, fürchte ich. Wenn er mit einem Philosophen reden wollte, würde er nach Gorywynn gehen und das Orakel befragen.«
»Schweigt, Turock!«, sagte Themistokles streng.
Turock zog eine Grimasse. »Und was, wenn nicht? Sperrt Ihr mich dann für weitere tausend Jahre ein?«
Kim sah erschrocken auf. »Ist das wahr?«
»Es ist ... nicht das erste Mal, dass Turock nach der Macht über Märchenmond greift«, antwortete Themistokles ausweichend. »Wir mussten uns schützen.«
»Indem ihr ihn für tausend Jahre eingesperrt habt?«, hauchte Kim entsetzt.
»Sieh dich um!«, antwortete Themistokles mit einer für ihn vollkommen untypischen Heftigkeit. »Dort draußen sind in der vergangenen Nacht mehr als tausend Jahre Leben ausgelöscht worden! Was hätten wir tun sollen? Ihn töten?«
»Glaubt mir, Themistokles«, sagte Turock düster, »ich hätte den Tod tausend Jahre der Einsamkeit vorgezogen! Aber nicht einmal diesen Ausweg habt Ihr mir gelassen! Ihr habt mich zu ewigem Leben verdammt, eingesperrt mit nichts als mir selbst und der Einsamkeit!«
»Und Ihr werdet weitere tausend Jahre dort verbringen«, sagte Themistokles hart, »und noch einmal tausend Jahre und noch einmal. Tausendmal tausend Jahre, wenn es sein muss - so lange, bis Ihr begreift, dass Ihr nicht der ganzen Welt Euren Willen aufzwingen könnt!«
»Nein!«, sagte Kim.
Nicht nur der Magier der Zwei Berge, sondern auch alle anderen sahen Kim erstaunt oder ungläubig an. Themistokles fuhr mit einer zornigen Bewegung herum. Für einen Moment loderte ein Ausdruck in seinen Augen, den Kim bisher nicht nur noch nie darin gesehen, sondern nicht einmal für möglich gehalten hatte: Wut.
Aber wirklich nur für einen Moment. Dann machte er Bestürzung und Scham Platz.
»Du darfst das nicht tun«, fuhr Kim fort. Er deutete auf Kai und Wolf. »Du verlangst, dass sie aus ihren Fehlern lernen? Dann solltest auch du dasselbe tun. Lass ihn frei.«
»Frei?«, vergewisserte sich Themistokles. »Ist dir klar, was du da verlangst? Er ist der Meister der Lüge!«
»Ich bin sicher, auch er hat gelernt«, antwortete Kim, während er sich bereits wieder zu Turock herumdrehte. »Du magst ein Lügner sein, Turock. Du kannst die Menschen betrügen. Du kannst den Menschen Dinge vorgaukeln, die nicht da sind. Du kannst sie glauben lassen, was immer du willst - aber für wie lange? Irgendwann wird jemand kommen, der deine Lügen nicht mehr glaubt, und dann wird das Kämpfen und Morden von neuem beginnen. Wie oft, Turock? Wie viele Male, bis niemand mehr da ist? Was nutzt es dir, König zu sein, wenn du kein Volk mehr hast, über das du herrschen kannst?«