»Hallo«, sagte Kim, an Sturm gewandt. »Es ist schön, dass wir uns noch einmal sehen.«
Sturm lächelte knapp zurück und warf einen fragenden Blick in Richtung des Magiers.
»Hallo«, antwortete er. Wieso wirkte er dabei verlegen?
Mit einer entschlossenen Bewegung drehte Kim sich herum um endlich Klarheit von Themistokles zu verlangen. Bevor er jedoch etwas sagen konnte, raschelte es neben ihnen im Gebüsch und die Spinne kam herbeigelaufen.
Genauer gesagt: Sie schleppte sich heran. Ihre Bewegungen hatten das meiste von ihrer natürlichen Eleganz und den Großteil ihrer Schnelligkeit eingebüßt und sie wirkte reichlich mitgenommen. Kim erinnerte sich mit plötzlichem Schrecken daran, dass sie dem flüchtenden Skull am Morgen gefolgt war und er sie seither nicht mehr gesehen hatte.
»Bist du verletzt?«, fragte er besorgt.
»Verletzt?« Die Spinne schüttelte sich. »Wie kommst du denn darauf? Ich bin nicht verletzt - nur vollkommen außer Puste. O je, o je, o je, jetzt hätte ich doch beinahe das Beste verpasst. Ihr wisst doch, wie sehr ich Abschiedsszenen liebe!« Sie humpelte noch ein Stück weiter und ließ sich dann mit einem halb unterdrückten Rülpser ins Gras sinken.
»Abschiedsszenen?«
Themistokles machte ein unbehagliches Gesicht. »Ich habe Sturms Eltern um einen Gefallen gebeten, weißt du?«, sagte er umständlich. »Sie waren so freundlich, ihn mir zu gewähren, um unserer alten Freundschaft willen und weil ich mich bereit erklärt habe, mich ein wenig um die Erziehung ihres Sohnes-«
»Themistokles!«, sagte Kim.
Themistokles räusperte sich nervös. »Ja, du hast ja Recht«, sagte er. »Um es einfach auszudrücken, auch wenn es mir nicht leicht fällt und ich gestehen muss, dass -«
»Sie nehmen dich mit«, murmelte Twix müde.
Kim riss die Augen auf. »Was?!«
»Es ist wahr«, gestand Themistokles. »Sie haben sich bereit erklärt, dich nach Hause zu bringen, obwohl dies einen großen Umweg für sie bedeutet und sie -«
»Aber warum denn nur?«, begehrte Kim auf. »Ich meine, ich ... ich dachte, ich hätte noch ein wenig Zeit und ... und ...«
»Nein, Kim«, sagte Themistokles. »Das hast du nicht. Du bist schon viel zu lange hier. Und eigentlich hättest du gar nicht kommen dürfen. Ich war es auch nicht, der dich gerufen hat, sondern Turock, der die Kraft deiner Fantasie nutzen wollte, um aus seinem Gefängnis zu entkommen.«
»Aber ... aber warum denn?«, stammelte Kim.
Themistokles sah ihn traurig an. »Als du das erste Mal hier warst«, sagte er, »da warst du ein Kind, und der Fantasie eines Kindes sind keine Grenzen gesetzt. Beim zweiten Mal waren wir es, die dich riefen, um unsere Welt vor dem Untergang zu retten. Diesmal...«
»... wäre Märchenmond fast untergegangen, weil ich gekommen bin«, murmelte Kim. »Ist es nicht so?«
Themistokles antwortete nicht sofort darauf, aber sein Schweigen war im Grunde schon viel mehr Antwort, als Kim haben wollte.
»Da ist noch etwas«, sagte Themistokles nach einer Weile. »Du kannst nie wieder zurückkehren.«
»Warum?«, fragte Kim. Seine Stimme brach fast.
»Weil du jetzt fast erwachsen bist, Dummkopf«, sagte die Spinne und Twix fügte in verschlafenem Tonfall hinzu:
»Und Erwachsene haben andere Träume.«
Kim dachte für einen Moment an jenen sonderbaren Ort weit unter dem Rand der Welt, den Friedhof der Träume. In Zukunft würde dort ein weiterer Grabstein stehen.
Ein kühler Wind kam auf und Kim wusste nun, dass es Zeit war, zu gehen. Er ließ sich in die Hocke sinken, umarmte den Pack und strich der Spinne zum Abschied mit der Hand über den Kopf. Dann nahm er die Elfe von der Schulter und wollte sie behutsam ins Gras setzen, aber Twix flatterte hastig in die Höhe, zog zwei oder drei taumelnde Runden um seinen Kopf - und landete dann im Nacken der Spinne!
»Ich wusste, dass ihr mir die ganze Zeit über etwas vorgemacht habt«, sagte Kim.
»Etwas vorgemacht?« Twix klang regelrecht empört. »Von wegen! Ich habe diesem vielbeinigen Scheusal Manieren beigebracht, das ist alles.«
Die Spinne hob die Schultern, wodurch sie Twix um ein Haar abgeworfen hätte. »Du hattest schon Recht«, sagte sie einsichtig. »Man isst nichts, mit dem man sich so lange unterhalten hat...«
»Außerdem ist es manchmal ganz praktisch, reiten zu können, statt ständig selber fliegen zu müssen«, grinste Twix und die Spinne führte ihren begonnenen Satz in übertrieben drohendem Ton zu Ende:
»... außer es wird unverschämt!«
Kim lachte, richtete sich auf und sah, dass hinter ihm ein wirbelnder grauer Nebel entstanden war. Das Tor zurück in die Wirklichkeit.
Aber was war schon Wirklichkeit?
Der Wind nahm zu und würde sich in wenigen Augenblicken zum Sturm steigern. Es wurde Zeit.
Doch bevor er in das graue Wirbeln hineintrat, drehte er sich noch einmal zu Themistokles um.
»Noch eine Frage, Themistokles«, sagte er. »Der Skull.«
»Er war meine Schöpfung«, gestand Themistokles. Es klang fast fröhlich. »Du hast es selbst erlebt: Manchmal bedarf es einer gemeinsamen Bedrohung, um aus Feinden Verbündete zu machen.«
»Aber er war stärker, als du denkst«, vermutete Kim.
»Ich allein hätte ihn nicht besiegen können«, sagte Themistokles, womit er sich geschickt um eine direkte Antwort herummogelte. »Nur die vereinten Kräfte aller haben dazu gereicht.«
»Und was ist aus ihm geworden?«, fragte Kim.
Themistokles antwortete nicht, aber die Spinne rülpste, dass der ganze Hügel zu wackeln schien.
»Fleisch«, flüsterte sie selig.
»Fleisch?« Kim öffnete die Augen und blinzelte in ein fast jugendhaftes Gesicht, das zu einem Mann in einer schwarzen Lederjacke und mit einer Polizeimütze gehörte. Im Moment hielt er sie allerdings in der linken Hand. Die andere brauchte er, um sachte, aber beharrlich, an Kims Schulter zu rütteln. »Fleisch?«, murmelte Kim benommen. »Wieso Fleisch?«
»Das frage ich dich«, antwortete der junge Polizist. Wenn man es recht bedachte, dann hatte er ziemliche Ähnlichkeit mit Kai; einem Kai, wie er vielleicht in fünf oder sechs Jahren aussehen mochte. »Du hast die ganze Zeit Fleisch gemurmelt, bevor du aufgewacht bist.« Er erhob sich ächzend aus der Hocke und machte eine abwehrende Bewegung, als Kim ebenfalls aufstehen wollte.
»Bleib liegen. Du hast vielleicht eine Gehirnerschütterung. Der Krankenwagen ist schon unterwegs.«
»Krankenwagen?« Kim richtete sich benommen auf und schüttelte den Kopf, was er aber schon in der nächsten Sekunde wieder bedauerte. Zwischen seinen Augen explodierte ein dumpfer Schmerz und er musste die Zähne zusammenbeißen, um nicht laut aufzustöhnen.
»Ich brauche keinen Krankenwagen«, murmelte er. »Twix bringt das schon wieder in Ordnung.«
Der junge Polizist sah ihn verstört an; dann aber begann er mit beiden Händen in den Jackentaschen zu graben und schüttelte den Kopf.
»Mit einem Schokoriegel kann ich dir leider nicht dienen«, sagte er, »aber wenn du stattdessen einen Kaugummi möchtest ...«
Kim starrte vollkommen verständnislos auf den in Silberpapier eingewickelten Kaugummistreifen, den der junge Beamte ihm hinhielt, und widerstand im letzten Moment der Versuchung den Kopf zu schütteln. Stattdessen machte er eine abwehrende Handbewegung. Während der junge Polizeibeamte seinen Kaugummi wieder einsteckte, versuchte er das Chaos hinter seiner Stirn zu ordnen. Er hatte bohrende Kopfschmerzen. Irgendwo hinter ihm war noch immer ein blaues, hektisches Flackern, als wäre die Schlacht zwischen dem Skull und Sturms Abschiedsgeschenk weiter in vollem Gange, und er hörte aufgeregte Stimmen, Rufe, schnelle Schritte, Geräusche wie von einem Kampf oder einem Handgemenge.
»Was ... ist passiert?«, fragte er zögernd.