Der junge Polizist beäugte ihn misstrauisch. »Du kannst dich nicht erinnern? Das sieht mir aber doch sehr nach einer Gehirnerschütterung aus! Bleib lieber liegen, bis der Krankenwagen hier ist.«
»Ich brauche keinen Krankenwagen, verdammt«, sagte Kim. Um seine Behauptung zu beweisen, stand er ganz auf. Er schaffte es sogar, stehen zu bleiben, wenn auch ein wenig wackelig. Trotzdem fügte er hinzu: »Ich habe mir den Kopf gestoßen, das ist alles.«
»Du hast dir nicht den Kopf gestoßen«, antwortete der Beamte betont, »du bist vom Garagendach gefallen, aus zwei Metern Höhe!«
Kim drehte sich herum, legte den Kopf in den Nacken und stellte endgültig fest, was er im Grunde längst wusste: Er war wieder zurück.
»Oh«, sagte er.
»Anscheinend hast du versucht aus dem Fenster zu klettern, um dich vor den Kerlen in Sicherheit zu bringen.«
»Den Pack«, murmelte Kim.
Der Beamte unterdrückte ein Grinsen. »Nun ja, so ... könnte man sie nennen. Jedenfalls haben die Kerle da drinnen ganz schön gehaust. Aber keine Sorge - wir haben sie alle erwischt. Dank eures Nachbarn. Er hat beobachtet, wie die Burschen ins Haus eingestiegen sind, und hat uns sofort alarmiert.«
Er deutete in die entgegengesetzte Richtung, und als Kims Blick der Geste folgte, sah er gerade, wie zwei Beamte den Punker mit der Piratenbluse in einen Polizeibus bugsierten, auf dessen Dach sich ein flackerndes Blaulicht drehte. Daneben, fest im Griff zweier weiterer Beamten, befanden sich noch der Gepiercte und der Punker mit dem Irokesenschnitt. »Den nicht«, sagte Kim.
Der Polizist sah ihn fragend an. »Wie meinst du das?«
Kim deutete auf den Irokesen. »Der Junge da«, sagte er. »Sie brauchen ihn nicht festzunehmen. Er gehört nicht dazu.«
Im Gesicht des Polizeibeamten erschien eine Spur von Misstrauen. »Wir haben ihn festgenommen, als er gerade aus dem Haus gekommen ist.«
»Das ... mag ja sein«, sagte Kim vorsichtig. »Ich meine: Er war schon dabei, aber er ist anders als die anderen.«
»Wieso?«
»Er hat mir geholfen«, behauptete Kim. »Die anderen haben mir ziemlich übel mitgespielt. Sie hätten mich fertig gemacht, wenn er nicht gewesen wäre. Er hat mir zur Flucht verholfen.« Das Misstrauen in den Augen des Polizisten war noch lange nicht verschwunden. Trotzdem hob er nach einem Moment sein Funkgerät an die Lippen und sagte: »Wolf, bring doch mal den Typen mit den grünen Haaren her.«
Sie warteten, bis ein Beamter den Punker herangebracht und seinen Arm losgelassen hatte, dann sagte der Polizist: »So, und jetzt noch mal. Das ist also der Junge, der dir geholfen hat aus dem Haus zu entkommen?«
Kim nickte und auf dem Gesicht des Punkers zeigte sich nichts anderes als fassungsloses Staunen. Gerade als Kim jedoch etwas sagen wollte, fiel ihm ein sanftes Glitzern im Gras auf: sein Schlüsselbund, der ihm offensichtlich beim Sturz vom Garagendach aus der Tasche gefallen war.
Er wollte sich danach bücken, aber der Punker kam ihm zuvor: So schnell, dass die beiden Polizeibeamten erschrocken zusammenfuhren und die Hände nach ihm ausstreckten, bückte er sich nach dem Schlüsselbund und hob ihn auf. Danach ließ er ihn in Kims ausgestreckte Hand fallen - wobei er ein so verblüfftes Gesicht machte, dass Kim beinahe laut losgelacht hätte. Der arme Bursche verstand offenbar weder, was er gerade getan hatte, noch warum.
Kim grinste über das ganze Gesicht. »Das macht nichts«, sagte er. »Gewöhn dich daran.«
Eine Stunde später kamen seine Eltern und Rebekka zurück. Die Punker waren längst weggebracht worden und Kim hatte seine Aussage, dass der Irokese ihm geholfen hatte, noch einmal bekräftigt.
Kim vertrieb die Zeit bis zur Rückkehr seiner Eltern damit, sich mit dem Fahrer des Krankenwagens, der natürlich doch gekommen war, darüber zu streiten, ob er nun eine Gehirnerschütterung hatte oder nicht und infolgedessen ins Krankenhaus gehörte oder nicht.
Natürlich war die Aufregung groß, als seine Eltern schließlich eintrafen und statt eines friedlich schlafenden Sohnes in seinem Bett eine ganze Abordnung aus Polizei und Krankenwagen, neugierigen Nachbarn und Gaffern auf der Straße vor ihrem Haus fanden. An Schlaf war in dieser Nacht kaum noch zu denken.
Doch am frühen Morgen, nachdem sich die ärgste Aufregung gelegt hatte, nachdem die Polizisten gegangen waren und sich die letzten Neugierigen zerstreut hatten und nachdem endlich auch seine Eltern zu Bett gegangen waren, um wenigstens noch ein paar Stunden Schlaf zu finden, schlich Kim noch einmal in Rebekkas Zimmer hinauf und trat auf Zehenspitzen an ihr Bett heran.
Rebekka schlief. Sie war den Abend über ungewöhnlich still gewesen. Ganz gegen ihre sonstige Art hatte sie Kim nicht mit Fragen gelöchert noch darauf bestanden, dass er seine Geschichte immer und immer erzählte, sondern ihm ganz im Gegenteil mit eher gelangweiltem Gesichtsausdruck gelauscht. Fast als wisse sie längst, was wirklich geschehen war, und amüsiere sich im Stillen über die Dummheit der Erwachsenen, die diese alberne Geschichte von den jugendlichen Einbrechern glaubten.
Kim blickte nachdenklich auf seine schlafende Schwester hinab. Rebekka hatte die Glaskugel, die Vater ihr mitgebracht hatte, von ihrem Platz auf dem Nachttisch genommen und im Schlaf fest an sich gedrückt.
Und für einen Moment, einen winzigen Moment nur, schien sie sich zu verändern. Das billige Kunstglas schimmerte wie purer Diamant und die Miniatur-Nachbildung Gorywynns darin schien zu funkeln wie eingefangenes Sternenlicht. Die plumpe Drachenfigur schimmerte plötzlich wie reines Gold. Sie lebte. Nun wusste er, wo Rangarig war.
Und er wusste noch etwas: Nämlich, dass seine Furcht unbegründet gewesen war. Auf dem Friedhof der Träume in seinem Herzen würde niemals ein Grabstein mit der Inschrift Märchenmond stehen.
Er blinzelte. Als er die Augen wieder öffnete, waren das goldene Schimmern und das Funkeln von eingefangenem Sternenlicht verschwunden, die Kugel war wieder zu dem geworden, als was sein Vater sie gekauft hatte: ein billiges Spielzeug. Aber er wusste, das er sich nicht getäuscht hatte.
Gerade als er sich umwenden wollte, krabbelte eine winzige weiße Spinne unter der Kugel hervor und begann Rebekkas Arm zu erklimmen. Kim beugte sich lautlos vor, streckte die Hand aus und wartete, bis sie auf seinen Finger gekrabbelt war. Dann drehte er sich rasch herum, ging zum Fenster und öffnete es. Behutsam setzte er die Spinne auf das Fensterbrett. »Geh, Kleine«, flüsterte er. »Such dir ein Stück Fleisch, das deiner Größe entspricht.«
Hinter ihm drehte sich Rebekka auf die Seite und murmelte im Schlaf: »Aber sprich nicht mit ihm.«
Kim lächelte. Nun wusste er, wo Themistokles die Magie Märchenmonds hingebracht hatte.
Sie war am sichersten Platz, den es für die Macht der Träume nur geben konnte:
Im Herzen eines Kindes.