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»Ich höre mich selber reden«, sagte Turock mit einem traurigen Lächeln. »Aber auch du wirst einsehen, dass es keinen Zweck hat, sich gegen das Schicksal aufzulehnen.«

Darauf antwortete Kim nicht. Aber er wusste, dass Turock Unrecht hatte. Er würde sich niemals damit abfinden, für den Rest seines Lebens in diesem verwunschenen Wald gefangen zu sein. Niemals.

Er verbrachte die nächste Woche damit, einen verrückten Fluchtplan nach dem anderen zu ersinnen und wieder zu verwerfen - von der Idee, eine Art Seilbahn in den Wald zu bauen, bis hin zu der, ihn kurzerhand in Brand zu setzen. Turock, der nicht so wortkarg und verschlossen war wie am Anfang, sich aber nun zumindest als geduldiger Zuhörer erwies, reagierte auf die meisten seiner Vorschläge gar nicht oder schüttelte allenfalls dann und wann den Kopf und meinte, dass es sich dabei um Ideen handelte, die er selbst schon einmal gehabt oder vielleicht sogar ohne Erfolg ausprobiert hatte.

Als sie eines Abends beim Essen zusammensaßen, blickte Kim aufmerksam auf seinen Teller, ließ dann die Gabel sinken und fragte in nachdenklichem Tonfalclass="underline" »Dein Essen, Turock ... wo kommt es her?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Turock.

»Du weißt es nicht?« Es fiel Kim schwer, das zu glauben.

»Aus der Vorratskammer«, sagte Turock. »Du holst es doch selbst heraus.«

»Aber ich habe noch nie etwas hineingebracht«, antwortete Kim betont.

»Es ist immer genügend da«, sagte Turock.

»Du meinst, ohne dass du jemals irgendetwas geerntet hättest?«, vergewisserte sich Kim. »Oder Beeren gesammelt oder Obst gepflückt oder Wild gejagt?«

»Wie könnte ich das?«, fragte Turock. »Ich kann den Wald nicht betreten. Niemand kann das.«

Er klang ein bisschen nervös. Kim wusste aber auch, dass er Recht hatte. Turocks Axt zu nehmen und zu versuchen, sich damit einen Weg durch das dicke Unterholz zu hacken, war so ziemlich seine allererste Idee gewesen. Die ineinander verfilzten Ranken und Äste waren jedoch so zäh wie Draht. Und wenn es ihm schon einmal gelang, eines der dünneren Stücke durchzuhacken, dann wuchs es so schnell nach, dass er dabei zusehen konnte.

»Aber irgendwo muss das Essen doch herkommen«, sagte er. Turock hob die Schultern. Er schwieg. »Und du hast nie versucht herauszufinden, wer dir das Essen schickt?«, bohrte Kim weiter.

»Es ist nicht gut, zu viele Fragen zu stellen«, antwortete Turock ohne ihn anzusehen. »Manche Dinge sind gut, so wie sie sind.«

Kim glaubte das Zögern des alten Mannes sogar zu verstehen. Vielleicht hatte Turock Angst, dass der Zauber erlosch, wenn er zu hartnäckig versuchte hinter sein Geheimnis zu kommen. Sie aßen schweigend zu Ende, und als die Sonne unterging, streckte sich Turock wie gewöhnlich auf seinem harten Bett aus und schlief auf der Stelle ein. Auch Kim machte es sich auf seinem Platz vor dem Kamin gemütlich, so gut das eben auf dem harten Steinboden möglich war, aber er schlief nicht ein. Er war müde, denn der Tag war ebenso von schwerer Arbeit erfüllt gewesen wie die zuvor, aber er hielt sich mit aller Gewalt wach, bis er ganz sicher sein konnte, dass Turock eingeschlafen war. Dann stand er wieder auf, schlich auf Zehenspitzen aus dem Raum und umrundete den Turm um in die Vorratskammer zu gelangen, die sich in einem winzigen Anbau auf der Rückseite befand.

Wie immer war die Nacht so dunkel, dass er kaum ein paar Schritte weit sehen konnte. In der ersten Nacht hatte er noch geglaubt, dass sich der Himmel einfach mit Wolken bedeckt hatte. Mittlerweile aber kam es ihm eher so vor, als ob Schatten aus dem Wald herauskrochen, sobald die Sonne nicht mehr am Himmel stand, und die gesamte Lichtung und den Turm in eine Aura unheimlicher Finsternis hüllten.

Als er die Vorratskammer betrat, konnte er im ersten Moment überhaupt nichts sehen. Der Raum hatte überhaupt kein Fenster und das schwache Licht, das von draußen hereindrang, war kaum der Rede wert. Er öffnete die Tür, soweit es ging, ließ sich in der Ecke des Raumes sinken und wartete. Worauf, wusste er selbst nicht.

Es musste auf Mitternacht zugehen. Kim fiel es jetzt immer schwerer, die Augen offen zu halten, und er wäre um ein Haar eingeschlafen, als er plötzlich ein Geräusch zu hören glaubte. Erschrocken riss er die Augen auf und erstarrte gleichzeitig zur Reglosigkeit.

Er hörte etwas wie einen vorsichtigen, platschenden Schritt. Im nächsten Moment erschien ein Schemen in der Tür.

Kim hielt gebannt den Atem an. Es war draußen so dunkel, dass er von der Gestalt kaum mehr als den Umriss richtig erkennen konnte. Trotzdem wusste er sofort, wen er vor sich hatte.

Es war ein Pack.

Die hängenden Schultern, die langen Affenarme und die spitzen Ohren waren unverkennbar. Und jetzt konnte er auch sehen, dass die Augen des Wesens in einem sanften, dunkelroten Licht glühten.

Kim musste sich mit aller Macht beherrschen, um nicht sofort aufzuspringen und das kleine Scheusal zu packen. Er hatte noch eine Rechnung mit diesen Biestern offen. Nach ihrer ersten Begegnung hatten seine Rippen noch tagelang geschmerzt.

Der Pack schlurfte mit hängenden Schultern herein, lud etwas auf einem der Regalbretter ab und humpelte dann wieder hinaus. Kim wartete, bis er verschwunden war, ließ der Sicherheit halber noch einige Sekunden verstreichen und stand dann auf um nachzusehen, was der Pack gebracht hatte.

Es waren eine Speckseite, ein Brot und ein kleiner Beutel mit frischem Obst.

Kim runzelte überaus verwirrt die Stirn. Die dienstbaren Geister, die Turock und mittlerweile auch ihn selbst mit Lebensmitteln versorgten, waren Pack! Dieselben komischen Biester, die Turock am ersten Tag als Ungeziefer beschimpft und mit dem Gürtel aus der Scheune geprügelt hatte!

Aber das ergab doch überhaupt keinen Sinn!

Vorsichtig ging er zur Tür und spähte hinaus.

Es war ein unheimlicher Anblick.

Die Dunkelheit über der Lichtung schien noch intensiver geworden zu sein. Er konnte nicht mehr erkennen, wo die Lichtung aufhörte und der Wald begann, aber er sah fast ein Dutzend winziger, roter Lichter, die in geringer Höhe über der Lichtung schwebten und sich hastig hin und her bewegten. Sie traten immer in Paaren auf.

Es dauerte ein paar Sekunden, bis Kim begriff, dass er nichts anderes als die leuchtenden Augen der Pack sah.

Aber was taten sie?

Ihr hektisches Hin und Her erschien ihm im ersten Augenblick vollkommen sinnlos. Mal glitten sie von rechts nach links oder auch in umgekehrter Richtung, mal senkten sie sich fast bis auf den Boden oder verharrten einige Momente vollkommen reglos und schließlich verschwanden zwei Pack in der Scheune. Kim konnte ihre leuchtenden Augen nicht mehr sehen, hörte aber das unruhige Schnauben eines Pferdes und das Rascheln von Stroh.

Endlich begriff er.

Die Pack suchten etwas. Nur - was?

Die Pack wuselten länger als eine halbe Stunde auf der Lichtung herum, aber schließlich gaben sie es auf und versammelten sich wieder am Waldrand. Kim hatte damit gerechnet, dass sie einen der Wege benutzen würden um im Wald zu verschwinden. Stattdessen sah er plötzlich einen sonderbaren grausilbernen Schimmer, der wie aus dem Nichts zwischen den Bäumen erschien und fast so etwas wie ein Tor bildete, in dem die Pack einer nach dem anderen verschwanden.

Das leuchtende Gebilde erlosch nicht gleich, nachdem der letzte Pack hindurchgegangen war, und Kim raffte all seinen Mut zusammen und lief quer über die Lichtung um einen Blick hineinzuwerfen. Er wagte es nicht, das sonderbare Gebilde zu betreten.

Dahinter lag nicht etwa der Wald, sondern eine gewaltige, bodenlose Schlucht, die von einem unheimlichen, düsterroten Licht erfüllt war. Ihr gegenüberliegender Rand war so weit entfernt, dass Kim ihn mehr erahnte, als er ihn wirklich sah. Über der Schlucht spannte sich ein gewaltiger wolkenloser Sternenhimmel und auf der anderen Seite schien tatsächlich Wald zu sein.

Quer über diese Schlucht zog sich eine kühn geschwungene Brücke aus denselben uralten Steinen, aus denen Turocks Turm erbaut war. Sie war so schmal, dass Kim schon vom bloßen Hinsehen schwindelte - was die Pack aber nicht daran hinderte, mit grotesken Sprüngen und Sätzen darüber zu hüpfen und dabei in schrillen Tönen zu lachen und zu meckern. Dann taten sie etwas, was so unglaublich war, dass Kim um ein Haar laut aufgeschrien hätte.