Sie sprangen einer nach dem anderen in die Schlucht hinab und verschwanden in der roten, wogenden Tiefe!
Als sich der letzte Pack in dem roten Höllenschlund aufgelöst hatte, begann auch das Tor zu verblassen. Nach kaum einer Minute stand Kim wieder vor den undurchdringlichen Schatten des Waldrandes.
Verwirrt und nachdenklich kehrte Kim in den Turm zurück. Er musste dabei wohl mehr Lärm gemacht haben, als ihm selbst klar war, denn kaum hatte er den Platz vor dem Kamin erreicht, da richtete sich Turock raschelnd auf seinem Lager aus Stroh auf und fragte: »Wo bist du gewesen?«
»Ich konnte nicht schlafen«, antwortete Kim ausweichend. Ohne dass er selbst einen Grund dafür hätte angeben können, erschien es ihm plötzlich besser Turock nichts von seiner unheimlichen Beobachtung zu erzählen. Wenigstens noch nicht.
»Bist du etwa draußen gewesen?«, fragte Turock. Seine Stimme klang scharf.
»Wieso?«
»Ich will nicht, dass du hinausgehst, sobald es dunkel geworden ist, hörst du?«, fuhr Turock fort ohne seine Frage auch nur zur Kenntnis zu nehmen. »Es ist gefährlich. Nachts kommen die Schatten aus dem Wald und wer weiß, was für Dinge sonst noch.«
»Nichts und niemand kommt aus dem Wald«, antwortete Kim, aber Turock ignorierte auch diese Antwort.
»Ich will nicht, dass du nach Dunkelwerden noch einmal aus dem Haus gehst, hörst du?«, sagte er. »Ich verbiete es!«
»Aber warum denn?«, wunderte sich Kim.
»Weil... weil...« Turock suchte einen Moment nach Worten. »Weil die Dinge gut sind, wie sie sind«, sagte er schließlich.
»Du meinst, dass du seit zwanzig oder dreißig Jahren hier festsitzt?«, fragte Kim. »Oder dass ich vielleicht auch für den Rest meines Lebens hier festsitzen könnte?«
»Unsinn«, widersprach Turock. »Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Ich sage nur, dass man die Dinge besser so lassen sollte, wie sie sind.«
»Heißt das, du willst hier nicht weg?«, fragte Kim.
»Weg?« Turock schien einige Augenblicke lang über die bloße Bedeutung dieses Wortes nachdenken zu müssen. Dann zuckte er mit den Schultern. »Aber wohin sollte ich denn gehen?«
»Nach Hause«, antwortete Kim verwirrt. Was für eine Frage!
»Nach Hause«, wiederholte Turock mit sonderbarer Betonung. »Ich erinnere mich kaum, was dieses Wort bedeutet. Es gab einmal einen Ort ... einen Ort mit Häusern und Menschen ... Aber ich habe ihre Gesichter vergessen ... Und auch ihre Namen. Ich bin hier zu Hause. Wohin sollte ich gehen? Alle, die ich gekannt habe, sind tot.«
»Aber das ist noch lange kein Grund aufzugeben!«, protestierte Kim. »Du wirst neue Freunde finden und neue Menschen, die du liebst und die dich lieben!«
»Wozu?«, fragte Turock leise. »Ich habe hier alles, was ich brauche. Und ich bin zu alt um noch einmal ein ganz neues Leben zu beginnen.«
»Aber ich nicht«, murmelte Kim. »Ich habe das erste noch nicht einmal richtig begonnen.«
Darauf antwortete Turock nicht mehr.
Sie sprachen in den nächsten Tagen nicht mehr über dieses Thema, aber Kim war nun weniger denn je bereit, sich einfach so mit seinem Schicksal abzufinden.
Er hatte einen Weg aus dem Schattenwald heraus entdeckt, und das war alles, was zählte. Er wusste zwar nicht, wohin er führte, und er wusste nicht einmal, ob er ihn gehen konnte, aber er würde es herausfinden.
Im Laufe der nächsten Nächte verlegte er sein Versteck immer näher an den Platz, an dem das Nebeltor auftauchte, und beobachtete die Pack ganz genau, während sie verschwanden. Die pelzigen Gnome stürzten sich nicht immer an derselben Stelle in das rote Licht, aber sie taten es jeden Abend. Das schimmernde Tor blieb jedoch immer für dieselbe Zeit bestehen. Kim schätzte, dass es weniger als fünf Minuten waren, bis die Schlucht und der schmale steinerne Bogen, der sich darüber hinweg spannte, endgültig verblasst waren.
Nachdem er die Pack eine Woche lang beobachtet hatte, sah er eine Möglichkeit, wie sie entkommen konnten. Es war ein haarsträubender Plan, von dem er nicht einmal wusste, ob er auch nur die geringste Aussicht auf Erfolg hatte.
Und als er sich endlich entschieden hatte, ihn in die Tat umzusetzen, hörten die Pack auf, ihnen Lebensmittel zu liefern.
»Was tust du da?«, fragte Turock.
Kim, der gerade damit beschäftigt war, eines der drei Pferde zu zäumen, die in den Boxen standen, hatte noch nie eine solche Schärfe in der Stimme des Alten gehört. Er wusste, dass irgendetwas passiert war, noch bevor er die Zügel losließ und sich zu Turock herumdrehte.
Der alte Mann stand unter der Tür und blickte ihn so finster an, als hätte er ihn mit der Hand im Zuckertopf erwischt.
»Ich ... wollte das Pferd ein wenig herumführen«, antwortete er.
»Wozu?«, wollte Turock wissen.
»Nur so«, log Kim. »Die armen Tiere kommen immer nur zum Pflügen aus dem Stall. Ich wollte es nur ein wenig reiten.«
»Reiten? Wohin?«
Kim schwieg. Seine Ausrede war so dünn, dass er sie nicht einmal selbst glaubte.
»Was hast du getan?«, fragte Turock. »Du hast mich belogen. Du warst nachts draußen und hast spioniert. Ich habe dir gesagt, du solltest es nicht tun, aber du hast es trotzdem getan, du dummer, unglückseliger Junge!«
Kim sah ein, dass Leugnen keinen weiteren Zweck mehr hatte. Turock war ihm auf die Schliche gekommen, aber er war beinahe froh darüber. Trotz allem empfand er eine gewisse Sympathie für den alten Mann und hatte sich nicht besonders wohl dabei gefühlt, ihn anzulügen.
»Und wenn?«, fragte er trotzig.
»Ich war gerade in der Vorratskammer um Essen zu holen«, sagte Turock. »Es ist nicht mehr viel da.«
»Wie bitte?«, murmelte Kim.
»Wir haben nur noch für einige Tage zu essen, du dummer Junge!«, antwortete Turock zornig. »Was hast du getan?!«
Kim schwieg einige Sekunden. Es tat ihm jetzt Leid, dass er Turock nicht gleich die Wahrheit gesagt hatte, aber er war auch noch immer ziemlich erschrocken und sehr verwirrt. Während der letzten Woche hatte er die Pack in jeder Nacht beobachtet und sich dabei sehr sicher gefühlt. Vielleicht ein bisschen zu sicher. Er hatte nicht einmal gemerkt, dass ihnen die kleinen Quälgeister keine Vorräte mehr gebracht hatten.
Er erzählte Turock, was er herausgefunden hatte. Der alte Mann hörte ihm schweigend zu, aber sein Gesicht verfinsterte sich mit jedem Wort, das er hörte, weiter. Als Kim mit seinem Bericht zu Ende gekommen war, schüttelte er den Kopf und seufzte tief. »Du weißt ja nicht, was du getan hast«, murmelte er.
»Turock, es tut mir Leid«, sagte Kim. »Ich wollte nicht, dass das passiert, das musst du mir glauben!«
»Es ist passiert«, antwortete Turock. »Warum hast du mir nichts erzählt? Warum hast du mir nichts vorher gesagt?«
»Wozu?«, antwortete Kim. »Du hättest es mir ja doch nur verboten.«
»Mit Recht!«, begehrte Turock auf. »Du siehst ja, was geschehen ist. Jetzt werden wir verhungern!«
»Ach was!«, widersprach Kim. »Du hast es selbst gesagt: Wir haben noch für vier oder fünf Tage zu essen. Das ist mehr Zeit, als wir brauchen.«
»Wozu?«
»Um von hier zu verschwinden!«, antwortete Kim heftig. »Ich habe einen Weg gefunden, der hier hinaus führt. Und ich werde von hier verschwinden.«
»Und dazu mein Pferd stehlen?«
»Ich brauche es«, antwortete Kim. »Und ich hatte nicht vor es zu stehlen.«
»Wie nennst du es dann, etwas zu nehmen, was dir nicht gehört?«, fragte Turock.