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»Gehören sie denn dir?«, fragte Kim trotzig. Er wollte nicht mit Turock streiten, aber er spürte, dass er eigentlich gar keine andere Wahl hatte. Es war verrückt. Sie wollten im Grunde beide dasselbe, aber es war, als redeten sie in unterschiedlichen Sprachen, die zwar gleich klangen, aber immer das Gegenteil dessen ausdrückten, was der andere hörte. »Sie waren schon hier, als du gekommen bist, habe ich Recht? Sie haben all die Jahre hier im Stall gestanden und du hast sie nur zur Feldarbeit herausgeholt, stimmt es?«

Turock schwieg, aber er tat es auf eine ganz bestimmte Art, die Kim klarmachte, dass es ganz genau so gewesen war.

»Hast du dir jemals überlegt, dass sie den einzigen Weg hier heraus darstellen?«, fuhr er fort. »Nur mit ihnen können wir versuchen über die Brücke zu kommen!«

»Und wenn du dich irrst?«, fragte Turock. Er wirkte verunsichert, aber keineswegs überzeugt. »Was, wenn du dich täuschst? Wenn du es nicht schaffst und ich allein hier zurückbleibe? Ich werde verhungern.«

»Wie kommst du auf die Idee, dass du allein hier zurückbleibst?«, fragte Kim. »Wir gehen zusammen.«

»Wann hast du dir das überlegt?«, fragte Turock. »Jetzt gerade oder schon in dem Moment, in dem ich dich überrascht habe?«

»Von Anfang an«, antwortete Kim. Das war die Wahrheit. Er hatte keine Sekunde lang vorgehabt, Turock einfach hier zurückzulassen. Der Vorwurf des Alten traf ihn hart und Turock schien dies auch zu spüren, denn der Ton in seiner Stimme wurde hörbar sanfter.

»Wann hast du mich gefragt, ob ich das wirklich will?«, fragte er. »Niemals. Du hast einfach für mich entschieden, ohne mich zu fragen. Was gibt dir das Recht dazu?«

»Dasselbe, was dir das Recht gibt, für mich zu entscheiden, dass ich hier bleiben muss«, antwortete Kim. »Vielleicht hast du Recht! Vielleicht kostet mich der Versuch das Leben. Aber dieses Risiko gehe ich ein. Lieber sterbe ich, ehe ich die nächsten fünfzig Jahre meines Lebens hier verbringe.«

Turock schüttelte traurig den Kopf. »Wir hätten darüber reden können«, sagte er.

»Ja, vielleicht«, gestand Kim. »Ich sagte bereits, dass es mir Leid tut. Aber siehst du denn nicht ein, dass wir jetzt eine Chance haben, hier herauszukommen? Ist das nicht das Risiko wert?«

»Diese Frage kommt zu spät«, sagte Turock. Jeder Vorwurf war jetzt aus seiner Stimme verschwunden. Es klang jetzt nur noch traurig und enttäuscht.

Kim drehte sich wieder herum und ging zur Pferdebox zurück. Der schwarze Hengst blickte ihm aufmerksam entgegen. Seine Ohren waren freundlich aufgestellt und er schnaubte leise. Seine Hinterläufe stampften unruhig auf dem Boden. Kim spürte regelrecht, wie sehr das Tier daraufbrannte, nach so langer Zeit endlich aus dem Stall herauszukommen. Wenn er jemals ein Pferd gesehen hatte, auf das das Wort edel zutraf, dann war es dieses.

»Kannst du reiten?«, fragte er.

»Ich konnte es einmal«, antwortete Turock. Dann verbesserte er sich. »Ja.«

»Dann brauchen wir nur noch zu warten, bis es dunkel wird«, antwortete Kim.

Turock sagte nichts mehr. Er blickte ihn nur weiter auf diese stumme vorwurfsvolle Art an, die viel schlimmer war, als hätte er ihn angeschrien.

Und nach einer Weile drehte er sich ebenso schweigend herum und ging.

Von all den Tagen, die er auf Turocks Lichtung verbracht hatte, war dieser der längste. Turock verlor kein Wort mehr über ihr Gespräch in der Scheune, er sprach den ganzen Tag nicht mehr mit Kim und antwortete nicht einmal auf direkte Fragen. Als es dunkel wurde, streckte er sich wortlos auf seinem Bett aus um wie jeden Abend auf der Stelle einzuschlafen.

Eine halbe Stunde vor Mitternacht jedoch öffnete er die Augen, stand ebenso wortlos auf und verließ den Turm. Kim war so überrascht, dass er nicht einmal eine entsprechende Frage stellte, sondern ihm einfach folgte.

Turock ging in die Scheune, wo Kim eine Überraschung erwartete: In der Mischung aus Scheune und Pferdestall brannte eine Fackel, in deren flackerndem roten Licht deutlich zu erkennen war, dass Turock nicht nur ein zweites Pferd aufgezäumt, sondern auch das Sattelzeug von Kims schwarzem Hengst neu gerichtet hatte - übrigens sehr viel fachkundiger, als Kim es selbst getan hatte. Von den Satteln der beiden Tiere hingen prachtvolle Packtaschen.

»Wann hast du das getan?«, fragte Kim verblüfft.

»Vorhin, während du Wasser geholt hast«, antwortete Turock. »Du willst mich also begleiten«, stellte Kim erleichtert fest. Turocks Schweigen und sein abwesendes Verhalten den ganzen Tag über hatten ihn schon ernsthaft befürchten lassen, dass der alte Mann doch nicht mit ihm kommen wollte. Er war nach wie vor fest entschlossen, die Flucht aus dem Schattenwald zu wagen, aber er hätte sich wahrscheinlich immer Vorwürfe gemacht Turock zurückgelassen zu haben ohne zu wissen, ob er nicht durch seine Neugier sein Leben zerstört hatte. Turock ging zu einer der beiden Boxen, trat hinein und bedeutete Kim mit einer Geste dasselbe zu tun. Als Kim die Packtaschen des Hengstes kontrollierte, stellte er fest, dass Turock offenbar ihre gesamten restlichen Vorräte eingepackt hatte. Eingewickelt in eine Deckenrolle, die hinter dem Sattel befestigt war, fand er noch etwas, dessen Anblick ihn noch mehr überraschte: Einen gut anderthalb Meter langen Bogen aus fein poliertem, nachtschwarzem Holz, dessen Sehne wie Metall glänzte. Dazu gehörte ein aus weichem Leder geflochtener Köcher, aus dem die gefiederten Enden eines halben Dutzend ebenfalls nachtschwarzer Pfeile ragten.

»Woher kommt dieser Bogen?«, fragte er.

»Ich habe ihn gemacht«, antwortete Turock. Er schlug mit der flachen Hand auf eine weitere, gleichartige Deckenrolle, die hinter seinem eigenem Sattel angebracht war. »Ebenso wie diesen hier.«

»Du?«, staunte Kim. »Warum? Wann?«

»Es ist schon lange her«, antwortete Turock. Dann lachte er leise. »Ich habe sehr lange dafür gebraucht. Vielleicht ein Jahr für einen Pfeil ... und ich glaube, ich weiß selbst nicht mehr, warum. Vielleicht habe ich einmal geglaubt ihn zu brauchen.« Während er sprach, hatte sich ein sonderbarer, fast melancholischer Ausdruck auf seinen Zügen ausgebreitet. Dann schüttelte er den Kopf und gab sich einen Ruck. »Vielleicht brauchen wir sie ja jetzt«, fuhr er in verändertem Ton fort. »Unsere Vorräte reichen nicht ewig. Es kann lange dauern, bis wir auf Menschen treffen. Und sie könnten feindselig sein.«

»Feindselig?«, wiederholte Kim zweifelnd. Es fiel ihm schwer, das zu glauben. Märchenmond war das friedlichste Land, das man sich nur vorstellen konnte.

»Wie bist du hierher gekommen?«, fragte er.

Turock hob die Schultern. »Ich erinnere mich nicht mehr«, antwortete er. »Früher wusste ich es einmal, aber es ist viel Zeit verstrichen.« Er hob die Hand. »Wir sollten die Fackel löschen. Sie werden bald kommen.«

Kim huschte aus der Box, löschte die Fackel und überzeugte sich, dass auch ja kein Funke ins Stroh hinuntergefallen war, der möglicherweise einen Brand auslösen konnte.

Kaum hatte er es getan, da drang ein mattgrauer Lichtschimmer durch die offene Scheunentür herein. Als Kim in die entsprechende Richtung sah, erblickte er ein Dutzend winziger, rot glühender Funken, die immer paarweise aus diesem nebelartigen Licht herauskamen und sich rasch auf der Lichtung zu verteilen begannen.

»Still jetzt«, fuhr der Alte fort. »Die kleinen Biester haben scharfe Ohren.«

Kim gehorchte und sagte nichts mehr und auch Turock schien wieder mit den Schatten im Inneren der Scheune zu verschmelzen. Endlose Minuten sahen sie gebannt zu, wie die rot glühenden Augen der Pack in scheinbar sinnlosem Hin und Her über die Lichtung glitten, ehe sie sich langsam entfernten um auch die andere Seite des Platzes zu untersuchen.

»Jetzt ist es bald so weit«, flüsterte Turock. »Sobald sich das Tor öffnet, müssen wir schnell sein. Steig in den Sattel.«

Kim gehorchte, sah aber mit wachsender Verwirrung in Turocks Richtung. »Woher weißt du das alles?«, fragte er.