»Weil es immer so ist«, antwortete Turock. »Sie tun in jeder Nacht dasselbe.«
»Und das wusstest du auch schon, bevor ich es dir erzählt habe«, vermutete Kim.
Turock gab ein leises Lachen von sich. »Wieso glaubt ihr Jungen eigentlich immer, jeder, der älter ist als ihr, wäre deshalb auch dumm? - Vielleicht hatte ich Angst«, fuhr Turock fort. »Ich bin jetzt schon so lange hier, dass es vielleicht einfacher schien, alles so zu lassen, wie es war. Still jetzt. Sie kommen. Wir reiten los, sobald sich das Tor öffnet.«
Trotz dieser Warnung vergingen noch mehrere Minuten, ehe der erste Pack wieder auf dieser Seite der Lichtung auftauchte. Kims Blick glitt nervös in die Richtung, in der das Tor auftauchen musste. Er schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass Turock Recht hatte und sich die Gewohnheiten der Pack tatsächlich niemals änderten. In jeder Nacht, in der er die kleinen Kobolde beobachtet hatte, war das Tor durch den verwunschenen Wald an derselben Stelle erschienen. Wenn es heute nicht so sein sollte, dann war ihre Flucht gescheitert, bevor sie überhaupt angefangen hatte. Sein Herz begann schneller zu schlagen und seine Nervosität musste sich wohl auch auf das Pferd übertragen, denn das Tier begann unruhig mit den Hufen zu scharren. Seine Flanken zitterten.
»Wonach suchen sie eigentlich?«, murmelte Kim.
»Das habe ich nie herausgefunden«, antwortete Turock. »Gib Acht!«
Er hatte die beiden letzten Worte kaum ausgesprochen, da erschien am Waldrand ein matter, silberfarbener Schimmer, als bräche sich Licht auf einem im Nebel verborgenen Stück Metall.
Kim packte die Zügel fester, aber Turock schüttelte den Kopf. »Noch nicht«, flüsterte er. »Warte, bis der letzte Pack hindurchgegangen ist.«
Er wartete mit klopfendem Herzen, bis die Pack sich der zitternden Erscheinung aus Licht näherten und einer nach dem anderen darin verschwanden. Seine Finger schlossen sich fester um die Zügel und seine Füße suchten in den Steigbügeln nach sicherem Halt. Es war lange her, dass er das letzte Mal auf einem Pferd gesessen hatte, aber man sagte ja, dass es mit dem Reiten wie mit dem Radfahren und Schwimmen sei: Einmal gelernt vergaß man nie, wie es ging.
Kim hoffte nur, dass das auch stimmte ...
Das letzte Geschöpf verschwand in dem leuchtenden Nebel und Turock schrie: »Los!«
Sein Pferd fegte wie einer von der Sehne abgeschossener Pfeil aus der Box und Kims schwarzer Hengst folgte ihm ohne nur einen Sekundenbruchteil zu zögern - und auch ganz ohne Kims Zutun, sodass er um ein Haar nach hinten von seinem Rücken geschleudert worden wäre. Verzweifelt klammerte er sich an Zügel und Sattelknauf fest und wurde nur durch Glück und sonst nichts nicht abgeworfen.
Turock galoppierte mittlerweile wie der Blitz auf das Tor zu. Lange vor Kim erreichte er es, tat aber dann etwas völlig Unerwartetes: Im letzten Moment riss er sein Pferd zurück, sodass das Tier mit einem erschrockenen Wiehern auf die Hinterläufe stieg und mit den Hufen ausschlug. Turock blieb dabei so sicher im Sattel sitzen wie ein Dressurreiter, der zeit seines Lebens nichts anderes getan hatte, ließ sogar mit einer Hand den Zügel los und gestikulierte in Kims Richtung.
»Schnell!«, schrie er. »Jede Sekunde zählt!«
Kims Pferd reagierte, bevor er selbst dazu in der Lage gewesen wäre, und vielleicht galten die Worte ja in Wahrheit sogar mehr dem Tier als seinem Reiter. Das Pferd griff plötzlich doppelt so schnell aus, raste an Turock vorbei und sprang mit einem gewaltigen Satz in den Nebel hinein.
Kim hatte für den Bruchteil einer Sekunde das Gefühl, von einer unsichtbaren Hand berührt zu werden, und plötzlich waren der Wald und die Dunkelheit verschwunden und unter ihm lag die gewaltige, von brodelndem roten Licht erfüllte Schlucht.
Sein Herz rutschte mit einem Schlag in die Hose, als er sah, dass die steinerne Brücke noch viel schmaler war, als es von außen betrachtet den Anschein gehabt hatte. Zu allem Überfluss war der Stein nicht nur von unzähligen Jahren, in denen behaarte Pack-Füße darüber gelaufen waren, spiegelglatt poliert worden, sondern das schmale Band fiel an beiden Seiten schräg ab. Unter normalen Umständen hätten Kim keine zehn Pferde auf diese Brücke hinaufbekommen.
In dieser Nacht reichte allerdings ein einziges.
Anders als sein Reiter schien das Tier nicht die geringste Scheu vor dem gähnenden Abgrund zu empfinden, denn es jagte mit solcher Geschwindigkeit los, dass seine Hufe Funken aus dem Fels schlugen und die Pack entsetzt auseinander stoßen. Zwei, drei der haarigen kleinen Kreaturen verloren den Halt und stürzten kreischend in die Tiefe, den anderen gelang es, irgendwie den trommelnden Hufen auszuweichen.
Wenigstens so lange, bis Turock dicht hinter Kim durch das Tor geprescht kam. Einer der Pack wurde von den wirbelnden Hufen getroffen und in hohem Bogen ins Nichts hinausgeschleudert. Der andere klammerte sich an Turocks Sattelzeug und versuchte seine langen Fingernägel ins Bein des Alten zu rammen um ihn auf diese Weise aus dem Sattel zu reißen. Turock versetzte ihm einen Fußtritt und der Pack verlor kreischend den Halt und folgte seinen Kameraden in die brodelnde rote Tiefe.
Kim machte sich wenig Sorgen um die kleinen Quälgeister. Schließlich hatte er oft genug gesehen, wie sie freiwillig von der Brücke aus in die Tiefe gesprungen waren - und außerdem hatte er im Moment alle Hände voll damit zu tun, sich auf dem Rücken des Pferdes festzuklammern um nicht abgeworfen zu werden.
Der Hengst wurde immer schneller. Trotzdem schien der gegenüberliegende Rand nicht näher zu kommen und Kim begriff voller Entsetzen, dass er sich ziemlich verschätzt hatte, was die Breite der Schlucht anging. Die wenigen Minuten, die ihnen blieben, bis sich das Nebeltor schloss, würden niemals reichen um sie zu überqueren.
Mit klopfendem Herzen blickte er nach unten. Die Schlucht war unvorstellbar tief und von rotem, brodelndem Licht wie brodelndem Nebel erfüllt, aber statt der Hitze, die diesen Anblick erwarten ließ, drang ein Hauch so intensiver Kälte aus ihr herauf, dass Kims Finger und Zehen schon nach wenigen Augenblicken steif wurden.
»Schneller!«, schrie Turock hinter ihm. »Schüttle ihn ab!«
Kim verstand gar nicht, was er meinte. Verwirrt drehte er den Kopf - und schrie erschrocken auf.
Er hatte geglaubt, dass sie alle Pack von der Brücke geschleudert hatten, aber das stimmte nicht.
Eines der haarigen kleinen Ungeheuer hatte sich mit beiden Händen im Schwanz des Pferdes festgekrallt. Der Hengst sprengte in solchem Tempo über die Brücke, dass der Pack nicht damit Schritt halten konnte, immer wieder in die Höhe, nach der Seite, aber auch wuchtig zurück auf den Boden geschleudert wurde; wie eine Gummipuppe, das ein Kind an ein Fahrrad gebunden hatte.
Kim sah ein, dass der alte Mann Recht hatte. Durch das kreischende Anhängsel behindert kam das Pferd immer wieder aus dem Tritt; zwar nicht so, dass sie in Gefahr waren abzustürzen, aber es konnte trotzdem nicht seine volle Schnelligkeit entwickeln.
Plötzlich fiel Turocks Pferd zurück. Kim sah, wie der Alte hinter sich griff, den Bogen aus der zusammengerollten Decke zog und einen Pfeil auflegte. Er schoss, noch bevor Kim richtig begriff, was er tat. Der Pfeil traf den Pack genau zwischen die Schulterblätter. Das Wesen kreischte vor Schmerz und Wut und erschlaffte dann, ließ den Pferdeschwanz aber trotzdem nicht los.
Turock fluchte und legte einen zweiten Pfeil auf die Sehne, doch er kam nicht mehr dazu, zu schießen. Etwas Unheimliches geschah. Die Schlucht, die Brücke, ja selbst das rote Licht in der Tiefe begann plötzlich an Substanz zu verlieren. Alles verblasste, als wäre es nur ein Trugbild gewesen.
Das Tor begann sich zu schließen!
Kim versuchte verzweifelt sein Pferd zu mehr Tempo anzuspornen, ließ die Zügel knallen und beugte sich noch tiefer über seinen Hals. Der Hengst kreischte erschrocken, stieß sich mit aller Gewalt ab und überwand die restliche Distanz in einem einzigen, gewaltigen Satz.