Der Aufprall war so hart, dass Kim aus dem Sattel geschleudert wurde und sich zweimal in der Luft überschlug, bevor er in einem stacheligen Gebüsch landete.
Sofort war er wieder auf den Füßen und zurück am Rande der Schlucht.
Er kam zu spät.
Eben erlosch der letzte Schimmer silbrigen Lichts, die Schlucht und Turock waren verschwunden. Vor Kim lag wieder nichts anderes als undurchdringlicher Waldrand.
Im ersten Moment war er so entsetzt, dass er sich einfach weigerte zu glauben, was er sah.
So grausam konnte das Schicksal nicht sein!
Hatte Turock sein Leben geopfert um ihn zu retten?
Der Gedanke traf ihn wie ein Schlag. War die eine Sekunde, die Turock gebraucht hatte, um seinen Bogen hervorzuholen und auf den Pack zu schießen, die entscheidende Sekunde gewesen, in der er den Sprung in die Freiheit geschafft hätte?
Ein klägliches Wimmern drang in seine Gedanken. Kim drehte sich langsam herum. Im ersten Moment glaubte er, es wäre das Pferd, das sich verletzt hatte, aber der schwarze Hengst stand nur ein paar Schritte entfernt da, nervös und aufgeregt, aber offensichtlich unversehrt. Das Wimmern kam aus einer anderen Richtung.
Obwohl der Himmel hier wolkenlos und die Nacht nicht einmal besonders dunkel war, konnte Kim trotzdem nicht sehr weit sehen. Hinter ihm war der Waldrand, der auch auf dieser Seite so undurchdringlich und schwarz war wie auf der vor Turocks Turm. Vor ihm gab es nur ein paar vereinzelte Bäume und ein wenig niedriges Buschwerk. Was dahinter lag, konnte Kim nicht erkennen.
Er folgte dem wimmernden Geräusch, stolperte über etwas Weiches und wurde mit einem lauten Quieken belohnt. Ungeschickt fiel er auf Hände und Füße herab, wollte sich wieder hochstemmen und starrte erschrocken in ein verzerrtes, haariges Gesicht.
Es war der Pack. Das Geschöpf war in einem dornigen Busch gelandet, der seinem Aufprall die schlimmste Wucht genommen hatte. Es wimmerte vor Schmerz. Turocks Pfeil hatte seinen Körper glatt durchschlagen. Die Spitze ragte eine gute Handbreit aus seiner Brust.
Vorsichtig streckte er die Hand nach dem Pack aus. Das Geschöpf stieß ein klägliches Pfeifen aus, hob eine Hand und deutete auf die Pfeilspitze, die aus seiner Brust ragte.
»Du willst, dass ich den Pfeil herausziehe«, vermutete Kim. Er schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht. Es tut mir Leid, aber es ist unmöglich.«
Es war wirklich unmöglich. Die Pfeilspitze war gute fünf Zentimeter lang und mindestens ebenso breit und sie hatte grausame Widerhaken, die es vollkommen unmöglich machten, den Pfeil herauszuziehen. .
Der Pack deutete jedoch wieder auf den Pfeil und mit der anderen Hand auf seine Brust.
»Du weißt, was du da verlangst?«, fragte Kim.
Das Wesen deutete abermals auf die Pfeilspitze und auf seine Brust. Sein Quieken wurde immer kläglicher.
Kim schluckte ein paar Mal, raffte all seinen Mut zusammen und griff mit beiden Händen nach dem Pfeil, der aus dem Rücken des haarigen Geschöpfes ragte. Mit einem kurzen, entschlossenen Ruck brach er das gefiederte Ende des Pfeils ab. Dann - solange er noch den Mut dazu hatte - packte er die vordere Hälfte des Geschosses und zog es mit einer raschen Bewegung heraus.
Der Pack kreischte vor Schmerz, bäumte sich auf und fiel in Ohnmacht. Und als Kim die Hand hob und den Pfeil darin betrachtete, von dem noch das Blut des kleinen Geschöpfes tropfte, da erging es ihm genauso.
Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht kitzelten ihn wach. Kim öffnete die Augen, blinzelte in einen wolkenlosen, klaren Himmel und gähnte erst einmal herzhaft, ehe er sich umständlich auf die Ellbogen hochstemmte und sich mit dem Handrücken den Schlaf aus den Augen rieb.
Es war sehr warm. Die Sonne schien hier größere Kraft zu haben als auf Turocks Lichtung, und noch bevor sich Kim umsah, spürte er, dass er an einem sehr friedlichen Ort war. Vögel zwitscherten und er hörte das helle Plätschern eines nahen Baches. Es war vollkommen windstill. Vielleicht empfand er die Wärme der Sonne deshalb so intensiv.
Kim setzte sich ganz auf. Sein erster Gedanke galt dem Pack, aber das kleine Wesen war nicht mehr da. Wo es gelegen hatte, war ein dunkler Fleck im Gras zurückgeblieben und auch die beiden Stücke des zerbrochenen Pfeiles waren noch da, der Pack selbst aber war spurlos verschwunden. Wahrscheinlich hatte sich der kleinen Kerl mit letzter Kraft in den Wald geschleppt um dort zu sterben. Der Pack tat ihm Leid. Er und seine Kumpanen waren alles andere als freundlich zu Kim gewesen, aber seinen Tod hatte er sich nun doch nicht gewünscht. Er verstand auch nicht ganz, warum Turock ihn niedergeschossen hatte. Der Pack war ziemlich lästig gewesen, aber eigentlich keine wirkliche Gefahr.
Er stand auf und drehte sich einmal im Kreis um sich einen ersten Überblick zu verschaffen. Seine Umgebung entsprach ungefähr dem ersten Eindruck, den er in der vergangenen Nacht davon gewonnen hatte: Hinter ihm erhob sich der Schattenwald, der auch von dieser Seite ebenso undurchdringlich und finster war wie von der anderen. In die drei anderen Richtungen erstreckte sich eine sanft gewellte, grasbewachsene Ebene, die irgendwo an ein Gebirge grenzte, das so hoch war, dass es mit dem Himmel zu verschmelzen schien. Das mussten die Schattenberge sein; das gewaltige Massiv, das Märchenmond von Morgon trennte, seinem finsteren Nachbarn. Kim war einmal dort gewesen, vor langer Zeit - aber das war eine andere Geschichte, an die er auch nicht so gerne zurückdachte. Jedenfalls nicht im Moment. Wichtiger war, dass er jetzt wenigstens wusste, wo er sich befand.
Das Schattengebirge begrenzte Märchenmond im Osten und das bedeutete, dass er sehr weit von Themistokles' gläserner Stadt Gorywynn entfernt war. Viele Tagesritte. Unangenehm viele Tagesritte.
Aus dem Gedanken resultierte ein anderer, vielleicht noch unangenehmerer. Kim drehte sich im Kreis und dann noch einmal, bevor er bereit war sich die Wahrheit einzugestehen. Das Pferd war nicht mehr da. Während er geschlafen hatte, hatte sich der schwarze Hengst auf und davon gemacht. Vor ihm lagen nicht viele unangenehm Tagesritte, sondern entsetzlich viele Tagesmärsche. Er hatte den Weg nach Gorywynn schon zweimal zurückgelegt; einmal auf einem Floß, das andere Mal auf dem Rücken eines Drachen, dessen gewaltige Schwingen die Luft mit der Schnelligkeit eines Pfeils teilten, aber noch niemals zu Fuß. Er wusste nicht einmal, ob es überhaupt möglich war.
Nun - so, wie es aussah, würde er es herausfinden ...
Kim folgte dem Geräusch des fließenden Wassers und gelangte schon nach wenigen Dutzend Schritten an einen schmalen, glasklaren Bach, dessen Wasser zwar eiskalt war, seinen Durst aber hervorragend stillte. Leider hatte er nichts zu essen bei sich. Zusammen mit dem Pferd waren auch die Vorräte verschwunden, die Turock eingepackt hatte, und es gab weit und breit nichts, was als Frühstück dienen konnte. Er konnte nur hoffen, dass er auf Menschen traf, ehe sein Hunger zu groß wurde.
Als er sich am Ufer des Baches aufrichtete, hörte er ein Rascheln hinter sich. Kim fuhr herum und starrte mit klopfendem Herzen in den Wald. Er sah nichts und auch das Geräusch wiederholte sich nicht - und trotzdem hatte er das Gefühl, aus der Schwärze jenseits des Waldrandes angestarrt zu werden.
»Ist... da jemand?«, fragte er zögernd. »Turock? Bist du das?« Er bekam keine Antwort und auch das Rascheln wiederholte sich nicht. Kim trat einen Schritt zurück und rief noch einmal Turocks Namen und dann noch mal, erhielt aber wieder keine Antwort.
Schließlich gab er es auf. Wahrscheinlich hatte er sich das Geräusch ohnehin nur eingebildet. In diesem unheimlichen Schattenwald konnte nichts Lebendiges existieren.
Und trotzdem wurde er den furchtbaren Gedanken nicht los: Was, wenn es doch Turock gewesen war? Wenn der Alte in diesem unheimlichen Zwischenreich gestrandet war, vielleicht für alle Zeiten gefangen in dieser undurchdringlichen Schwärze, die sich hinter den Bäumen verbarg?