Dann war es seine Schuld.
Er hatte Turock überredet, die Sicherheit seines Turmes aufzugeben, und Turock hatte die entscheidende Sekunde gezögert, um ihn zu retten!
Der Gedanke war zu furchtbar, um ihn zu Ende zu denken. Kim spielte noch eine Sekunde mit der Idee, die nächste Nacht abzuwarten. Vielleicht öffnete sich das Tor ja noch einmal und Turock kam heraus.
Aber das würde nicht geschehen.
Der Weg durch den Wald war für alle Zeiten verschlossen. Es gab für die Pack keinen Grund mehr, das magische Tor zu öffnen und Lebensmittel zu einem Turm zu bringen, weil niemand mehr da war, der sie brauchte.
Niedergeschlagen wandte sich Kim um und begann seine nähere Umgebung nach etwas Eßbarem abzusuchen. Er brauchte eine halbe Stunde dazu und die Ausbeute war ziemlich mager. Er fand eine Hand voll Beeren, die zwar äußerst schmackhaft waren, seinen Hunger aber erst richtig entfachten, und eine große Anzahl Pilze, die er nicht zu essen wagte. Möglicherweise waren sie giftig. Ziemlich enttäuscht kehrte er an den Platz am Ufer des Baches zurück, an dem er seine Suche begonnen hatte, und erlebte eine Überraschung.
Am Ufer lag ein Leinenbeutel, der einen halben Laib Brot, ein Stück Käse und frisches Obst enthielt.
Kim war nun vollends verblüfft, aber sein Hunger überwog. Er frühstückte ausgiebig und beschloss, sich hinterher Gedanken über die Frage zu machen, wer sein Wohltäter war. Kim verputzte Brot, Käse und Obst bis auf den allerletzten Krümel und trank danach noch einmal ausgiebig. Solcherart gestärkt, machte er sich auf den Weg. Er war mittlerweile schon wieder etwas optimistischer - und er machte sich auch nicht mehr allzu viele Gedanken über die Frage, wer ihm das Essen gebracht hatte. Er war schließlich nicht zum ersten Mal in diesem Land und er hatte hier schon erstaunliche Dinge erlebt.
Er wusste nicht, in welcher Richtung Gorywynn lag, aber immerhin wusste er, dass die Schattenberge die östliche Grenze des Landes bildeten. Wenn er also darauf achtete, das Gebirge immer hinter sich zu haben, dann würde er früher oder später in eine Gegend kommen, die er kannte, oder wenigstens auf Menschen treffen.
Wie es aussah, wohl eher später.
Er wanderte eine Stunde, dann noch eine und noch eine, bis er die erste Rast einlegte. Die Sonne war mittlerweile höher gestiegen und es wurde warm. Kim rastete eine halbe Stunde, dann brach er wieder auf und marschierte weiter.
Auf diese Weise verging der ganze Tag. Zweimal stieß er auf schmale Bäche, an denen er seinen Durst löschen konnte, aber er fand nichts zu essen. Als die Sonne zu sinken begann, knurrte sein Magen und seine Waden waren so verkrampft, dass er kaum noch gehen konnte. Morgen früh würde er den schrecklichsten Muskelkater seines Lebens haben. Und das Schlimmste war: Die Silhouetten der Berge schienen sich keinen Zentimeter entfernt zu haben und die sanft gewellte grüne Steppe vor ihm bot noch immer denselben Anblick wie am Morgen. Es war, als wäre er überhaupt nicht von der Stelle gekommen.
Ein Gutes hatte seine Erschöpfung: Kim streckte sich im weichen Gras aus und schlief auf der Stelle ein.
Als er am nächsten Morgen erwachte, lag ein Beutel mit Lebensmitteln neben ihm und nicht weit davon entfernt ein Schlauch, der gut zur Hälfte mit Wasser gefüllt war. Kim nahm beides dankbar an sich, sah sich diesmal aber aufmerksamer um, nachdem er seinen Hunger gestillt hatte. Er verstand nicht allzu viel vom Spurenlesen; trotzdem konnte er sehen, dass das Gras in seiner unmittelbaren Umgebung niedergetrampelt war. Das Essen war nicht vom Himmel gefallen. Jemand war in der Nacht hier gewesen und hatte es ihm gebracht.
Aber wer?
Er verschob die Lösung dieses Rätsels auf später und marschierte in dieselbe Richtung wie am Vortag los. Das Gehen fiel ihm jetzt schwerer. Der erwartete Muskelkater hatte sich eingestellt und er war noch schlimmer, als er befürchtet hatte. Jeder Schritt war eine Qual und dazu kam, dass die Sonne heute mit sehr viel mehr Kraft vom Himmel schien als noch gestern. Und die grüne Einöde vor ihm nahm einfach kein Ende.
Gegen Mittag tauchte ein Schatten vor Kim am Horizont auf. Eine Zeit lang klammerte er sich an den Gedanken, dass es ein Haus sein könnte, und zwang seine schmerzenden Beine, noch schneller auszugreifen. Nach einigen Minuten sah er aber bereits, dass es sich nur um eine kleine Felsgruppe handelte. Trotzdem ging er schneller weiter. Felsen bedeuteten Schatten, in denen er wenigstens die heißesten Stunden des Tages abwarten konnte.
In Schweiß gebadet und auf Beinen, die bei jedem Schritt wehtaten, erreichte er die Felsgruppe und ließ sich erschöpft in den Schatten sinken. Er war so müde, dass er am liebsten auf der Stelle eingeschlafen wäre.
Vielleicht wäre er es sogar, hätte er nicht plötzlich ein leises, verlockendes Plätschern gehört. Wasser. Offensichtlich meinte es das Schicksal ausnahmsweise mal gut mit ihm. Auf der anderen Seite des Felsens musste eine Quelle entspringen. Kim hob müde den Kopf, zwang sich, die Augen zu öffnen - und blickte in ein haariges Gesicht, das von der Höhe der Felsen auf ihn herabstarrte.
Der Pack hockte mit untergeschlagenen Beinen auf dem Fels, hielt einen grauen Leinenbeutel in der einen und einen appetitlich aussehenden Apfel in der anderen Hand und schmatzte so laut, dass Kim wahrscheinlich allein davon wach geworden wäre, hätte er geschlafen. Saft lief aus seinen Mundwinkeln an seinem fliehenden Kinn herab und tropfte in das Fell auf seiner Brust. Das Wesen rührte sich nicht, aber der Blick seiner kleinen, boshaften Augen verfolgte misstrauisch jede von Kims Bewegungen.
Kim stand ganz vorsichtig auf und sah ihn an. Von der restlichen Bande war jedoch nichts zu sehen. Der Pack bildete entweder nur die Vorhut oder er war tatsächlich allein gekommen. Oder...
Kim kniff die Augen zusammen, um den Pack gegen das grelle Sonnenlicht besser erkennen zu können. Auf der Brust des kleinen Wesens befand sich ein dunkler Fleck, der gut eingetrocknetes Blut sein konnte.
Kein Zweifel - es war der Pack, den Turock niedergeschossen hatte. Kim hatte geglaubt, dass das Wesen davongekrochen war um irgendwo in Ruhe zu sterben. Stattdessen hatte es sich davongeschleppt um gesund zu werden!
Die kleinen Biester waren wirklich hart im Nehmen.
Der Pack hatte den Apfel verputzt und spuckte den Kern in Kims Richtung. Er wich dem Wurfgeschoss hastig aus, spürte aber gleichzeitig wieder das Knurren seines Magens.
Der Pack langte in seinen Beutel, zog eine saftige Birne hervor und biss herzhaft hinein. Kim lief bei dem bloßen Anblick das Wasser im Munde zusammen.
»Hallo«, sagte er zögernd. »Du ... verstehst mich nicht zufällig?«
Der Pack legte kauend den Kopf auf die Seite und starrte ihn aus schmalen Augen an. Er schmatzte lautstark.
Kim kam sich mittlerweile ziemlich blöd dabei vor, dazustehen und mit einem haarigen Kobold zu reden, der über ihm saß und Obst mampfte. Aber er hatte Hunger. Ganz erbärmlichen Hunger.
»Sag mal... hast du in deinem Beutel vielleicht noch etwas?«, fragte er. »Nur eine Kleinigkeit. Falls du sie erübrigen kannst.«
Der Pack legte den Kopf auf die andere Seite, holte aus und warf ihm die angebissene Birne zielsicher ins Gesicht.
Es kam so überraschend, dass Kim einen Schritt zurückstolperte und auf dem Hosenboden landete. Überrascht hob er die Hände und wischte sich Birnenmus und Saft aus dem Gesicht - und fiel im nächsten Moment vollends nach hinten, als der Pack aufsprang und auch noch den Leinenbeutel hinterherwarf. Was immer er enthielt, es war schwer und so hart, dass er im ersten Moment buchstäblich Sterne sah.
Als er sich aufrichtete, war der Pack verschwunden, aber er hörte sein aufgeregtes Schnattern auf der anderen Seite der Felsen. Halb blind tastete er um sich, bekam den Leinenbeutel zu fassen und richtete sich auf. Sein Kopf dröhnte. Er stolperte mehr, als er ging, um die Felsen herum und riss zum zweiten Mal binnen weniger Minuten ungläubig die Augen auf.