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Auf der anderen Seite der Felsen entsprang eine Quelle, ganz wie er vermutet hatte. Das Wasser sammelte sich in einem kleinen See, bevor es im Boden versickerte, aber am Ufer des Wasserloches stand nicht der Pack, sondern ein rabenschwarzes, fertig aufgezäumtes und gesatteltes Pferd!

Und es war nicht irgendein Pferd. Es war der schwarze Hengst. Mit dem er von Turocks Lichtung geflohen war. Seine Vorderläufe waren zusammengebunden, sodass er nicht weglaufen konnte. Sein Gepäck und die Satteltaschen lagen auf der anderen Seite des Sees. Selbst der schwarze Bogen und der Köcher mit den Pfeilen standen an den Felsen gelehnt da. Kim drehte überrascht den Kopf und sah sich um. Das Meckern des Pack war verstummt, aber er konnte regelrecht spüren, dass der Gnom noch irgendwo in der Nähe war und ihn beobachtete.

»Warum kommst du nicht raus?«, rief er. »Ich tue dir nichts!« Natürlich bekam er keine Antwort. Außerdem kam er sich ein bisschen lächerlich bei diesen Worten vor. Sein Kopf dröhnte noch immer, so hart hatte ihn der Leinenbeutel getroffen.

Er ging zum See, ließ sich auf die Knie herabsinken und löschte ausgiebig seinen Durst, bevor er den Leinenbeutel inspizierte. Was ihn so hart am Kopf getroffen hatte, war ein Stück steinaltes Brot gewesen; alles, was ihm der Pack übrig gelassen hatte. Mehr noch: Der Leinenbeutel kam ihm plötzlich sehr bekannt vor, genau wie die beiden anderen, die er zuvor gefunden hatte. Die »Geschenke« waren nichts anderes als die Vorräte, die Turock für ihn eingepackt hatte. Oder das, was noch davon übrig war ...

Aber er wollte sich nicht beschweren. Immerhin hatte er jetzt ein Pferd und Pfeil und Bogen um im Notfall ein Stück Wild jagen zu können.

Wie er es sich vorgenommen hatte, wartete er die heißesten Stunden des Tages im Schütze der Felsen ab. Danach badete er ausgiebig in der eiskalten Quelle, trank so viel, bis er glaubte platzen zu müssen - er hatte den Wasserschlauch dummerweise nicht behalten und somit auch keine Möglichkeit, etwas von dem kostbaren Nass mitzunehmen -, verzehrte den Rest seiner spärlichen Vorräte und stieg dann in den Sattel.

Er kam nun sehr viel schneller voran und vor allem leichter.

Trotzdem brauchte er noch zwei Tage, bis er das Dorf fand.

Seine Umgebung hatte sich ganz allmählich verändert. Er ritt noch immer über eine scheinbar unendliche Steppe, die vornehmlich mit kniehohem, saftigem Gras bewachsen war, aber es gab jetzt doch immer öfter kleine Ansammlungen von Bäumen und Buschwerk und zweimal traf er sogar auf etwas, was ein aufgegebenes Feld sein konnte: Unkraut und Gras hatten längst begonnen die gerodete Fläche zurückzuerobern, aber man konnte ihre ehemalige Form noch deutlich erkennen.

Am späten Nachmittag des zweiten Tages stieß er auf einen schmalen Trampelpfad, der ebenfalls den Eindruck machte schon seit Jahren nicht mehr benutzt worden zu sein. Obwohl er nicht genau in die Richtung führte, in die er ritt, folgte ihm Kim. Nach einer Stunde oder mehr - die Sonne hatte ihre Wanderung fast beendet und ein Teil des Himmels begann sich schon wieder mit dem Grau der Dämmerung zu überziehen - entdeckte er einen verwaschenen hellen Fleck am Horizont vor sich, der bald zu einer Ansammlung kleiner, strohbedeckter weißer Häuser wurde.

Das Dorf war nicht besonders groß - vielleicht ein Dutzend kleiner Gebäude, das sich um einen zentralen Platz gruppierte. In einiger Entfernung schien es noch einen größeren Bauernhof zu geben und als Kim näher kam, sah er eine schmale Straße, die sich in südöstlicher Richtung aus dem Dorf herauswand.

Was er nicht sah, waren die Einwohner des Dorfes.

Zwischen den Gebäuden rührte sich nichts und obwohl es jetzt immer rascher dämmerte, brannte nirgendwo ein Licht. Aus keinem einzigen Kamin stieg Rauch auf. So enttäuschend er den Gedanken auch fand: Der Ort schien genauso verlassen und aufgegeben zu sein wie die Felder, die er gefunden hatte. Aber wenigstens würde er in dieser Nacht wieder in einem richtigen Bett schlafen können und unter einem richtigen Dach.

Es wurde dunkel, bis er das Dorf erreichte. Kim ritt bis in die Mitte des Dorfplatzes, zügelte das Pferd und drehte sich langsam im Sattel nach rechts und links. Vollkommene Stille umgab ihn. Es war fast so dunkel wie in Turocks unheimlichem Wald, sodass er die Häuser auch aus der Nähe nur als helle Schemen erkennen konnte. Trotzdem sah er, dass die Häuser zwar offensichtlich leer standen, aber nicht verfallen waren. Das Dorf konnte noch nicht allzu lange von seinen Bewohnern verlassen worden sein.

Kim rief zwei- oder dreimal mit lauter Stimme, um sich bemerkbar zu machen, bekam aber nur sein eigenes Echo zur Antwort. Schließlich stieg er ab, nahm das Pferd am Zügel und näherte sich einem der Häuser.

Die Tür war verschlossen, aber so morsch, dass er nur einmal kurz mit der Schulter dagegen drücken musste um das altersschwache Schloss zu sprengen. Kim zögerte es zu tun. Bisher hatte er nichts getan, was ihm die Leute hier übel nehmen konnten. Wenn sie jedoch zurückkamen und feststellten, dass er gewaltsam in eines ihrer Häuser eingebrochen war ...

Was für ein Unsinn!

Der Ort war seit Wochen verlassen, wenn nicht seit Monaten. Warum sollten seine Einwohner ausgerechnet in dieser Nacht zurückkommen? Und selbst wenn, würden sie bestimmt Verständnis für seine Lage haben.

Kim sprengte die Tür mit einer entschlossenen Bewegung ganz auf und stolperte von seinem eigenen Schwung getragen einen Schritt ins Haus hinein.

Das Erste, was ihm auffiel, war der üble Geruch. Die Luft war trocken und roch nach Alter und Staub, aber auch nach etwas Altem und Faulendem. Kim blieb einen Moment mit klopfendem Herzen stehen und lauschte, rief dann noch einmal und tastete sich schließlich mit weit vorgestreckten Händen durch das Zimmer, als er keine Antwort bekam. Mit einiger Mühe fand er das Fenster, öffnete es und stieß die Läden auf.

Das Zimmer bot einen Anblick des Jammers. Nicht nur auf dem Boden, sondern auch auf den Möbeln lag der Staub zentimeterdick. Auf dem Tisch standen Teller, auf denen die Reste einer Mahlzeit vor sich hin faulten - die Quelle des üblen Geruchs -, und in allen Ecken und Winkeln hingen Spinnweben, die so dick mit Staub verkrustet waren, dass sie wie schmutzige Handtücher wirkten. Neben der Tür lag ein einzelner Schuh und je genauer er sich umsah, desto mehr achtlos liegen gelassene und unter einer fleckigen grauen Staubschicht begrabene Dinge sah er. Wer immer das Haus verlassen hatte, hatte es vor langer Zeit getan und in großer Hast. Das bewies allein die angefangene Mahlzeit, die auf dem Tisch stand.

Der Anblick - so unappetitlich er sein mochte - erinnerte ihn wieder daran, wie hungrig er war. Kim durchsuchte das ganze Haus - das ohnehin nur aus zwei Zimmern bestand -, ohne allerdings mehr zu finden als einen Laib Brot, der so hart war, dass er damit ein Loch in die Wand schlagen konnte. Schließlich gab er es auf, verließ das Haus und wandte sich dem nächsten zu.

Im Laufe der nächsten zwei Stunden durchsuchte er auf diese Weise das ganze Dorf. Er fand überall dasselbe: Der Ort war von seinen Bewohnern verlassen worden, und das vor langer Zeit und offensichtlich in großer Hast.

Was war hier passiert?

Während er noch überlegte, was er nun tun sollte, hörte er ein Klappern hinter sich. Erschrocken drehte er sich um. In dem Haus, das er als Erstes durchsucht hatte, brannte jetzt Licht. Menschen. Licht bedeutete Menschen und Menschen bedeuteten Essen und Wärme.

»Hallo?«, rief Kim. »Ist da jemand?«

Er wartete die Antwort erst gar nicht ab, sondern stürmte los. Während er sich dem Haus näherte, legte er sich in Gedanken schon eine Entschuldigung zurecht, falls der Hausbesitzer sich über die aufgebrochene Tür beschwerte.

Er brauchte sie nicht.