»Wegen langer Haare?« Kim konnte sich das kaum vorstellen. Er selbst trug die Haare relativ kurz, aber nicht aus irgendeiner Überzeugung oder aus modischen Beweggründen heraus, sondern aus purer Bequemlichkeit. Da er viel Sport trieb, fand er es einfach praktischer, sich nicht ständig die Haare aus dem Gesicht wischen zu müssen oder damit irgendwo hängen zu bleiben. In seiner Klasse gab es alle mögliche Frisuren. Übrigens auch ein paar unmögliche, seiner Meinung nach.
»Das Prinzip war dasselbe«, bekannte sein Vater. »Wir waren erst einmal gegen alles, was unsere Eltern gut fanden, und haben danach darüber nachgedacht. Im Grunde tun diese Rocker -«
»Punker«, verbesserte ihn Kim.
»- tun diese Punker nichts anderes«, fuhr sein Vater fort. »Nur auf ihre Weise. Damit wollte ich nicht gesagt haben, dass ich es gut finde. Das ganz bestimmt nicht. Aber weißt du, was? Ich wette, wenn diese sechs Kanarienvögel da hinten in zwanzig Jahren Fotos von sich sehen, dann ist ihnen das genauso peinlich wie mir heute, wenn ich mir alte Aufnahmen ansehe.«
»An unserer Schule sind vor drei Monaten zwei Jungs verhaftet worden, weil sie einen Lehrer verprügelt und anschließend seinen Wagen in Brand gesetzt haben«, sagte Kim.
»Ich weiß«, antwortete sein Vater. Er lächelte jetzt nicht mehr. »Und ich wollte auch bestimmt nichts verharmlosen. Die Jugend wird immer gewalttätiger und das ist ein großes Problem. Ich frage mich nur, ob es eine Lösung ist, mit immer drakonischeren Strafen darauf zu reagieren.«
»Drakonische Strafen?« Kim zog eine Grimasse. »Die beiden Kerle waren nach einem Tag wieder auf freiem Fuß. Ihr Lehrer ist krankgeschrieben.«
»Das ist das nächste Problem«, bestätigte sein Vater. »Manche sind zu hart und manche zu weich.« Plötzlich lachte er. »He, meinst du nicht, dass wir die Diskussion eigentlich genau andersherum führen sollten? Ich meine: Ich bin hier der verknöcherte Alte und du das rebellische Kind.«
»Sag das noch mal und ich lasse mir die Haare grün färben und steche mir eine Büroklammer durch die Unterlippe!«, drohte Kim.
Sie lachten beide herzhaft über diesen Scherz, aber nicht sehr lange. Das Gespräch hatte einen schlechten Nachgeschmack zurückgelassen, den sich Kim nicht richtig erklären konnte. Vielleicht weil er seinen Vater selten so ernst erlebte. Er wollte es gar nicht, aber er musste noch einmal auf das Thema zurückkommen.
»Es ist anders«, bekannte er. »Ich habe gelesen, dass an manchen amerikanischen Schulen jetzt schon Metalldetektoren wie am Flughafen aufgestellt werden, damit man die Schüler nach Waffen durchsuchen kann.«
»Ich habe doch Recht«, sagte sein Vater. »Du bist erst einmal prinzipiell gegen alles, was ich sage.« Dann wurde er wieder ernst. »Weißt du, ein sehr weiser Mann hat einmal gesagt, dass die junge Generation zweifellos den Untergang der Kultur bedeutet.«
»Der Direktor meiner Schule?«, fragte Kim.
»Plato«, antwortete sein Vater. »Fünfhundert vor Christus ... glaube ich.«
»Sehr komisch.«
»Nein, überhaupt nicht«, widersprach sein Vater. »Was ich damit sagen will, ist, dass diese Diskussion schon so alt ist wie die Menschheit. Jetzt frag ich mich bloß, warum, aber offensichtlich ist es so, dass die Jugend immer gegen alles Alte rebelliert und sich das Alter immer gegen alle Neuerungen sperrt.« Er warf Kim einen raschen Seitenblick zu. »Stark vereinfacht ausgedrückt, versteht sich.«
»Sehr stark vereinfacht«, murmelte Kim. Aus einem Grund, den er sich nicht richtig erklären konnte, begann ihm das Gespräch immer unangenehmer zu werden.
»Vielleicht müssen wir einfach lernen mehr miteinander zu reden«, sagte sein Vater. Dann betätigte er den Blinker und lenkte den Wagen an den rechten Straßenrand. »Wo wir gerade schon einmal dabei sind: Tu mir doch einen Gefallen und ruf deine Mutter an. Ich muss noch einmal in die Buchhandlung und dort nachfragen, ob meine bestellten Bücher schon angekommen sind.«
»Moment mal!«, protestierte Kim. »Mutter wartet mit dem Essen auf uns! Sie reißt mir den Kopf ab, wenn ich ihr erkläre, dass wir zu spät kommen!«
»Deswegen sollst du ja auch anrufen«, erklärte sein Vater grinsend, während er schon seinen Sicherheitsgurt löste und mit der anderen Hand die Tür öffnete.
»Aber du hast doch gerade selbst gesagt, dass wir mehr miteinander reden müssen!«
»Die junge Generation mit der alten und umgekehrt«, grinste sein Vater. Er stieg aus. »Nicht die Alten mit ihresgleichen.«
»Du bist ein Feigling«, grollte Kim.
»Ich habe nie etwas anderes behauptet«, erklärte sein Vater grinsend. »Nicht wenn es um deine Mutter geht. Bis gleich!« Kim blickte ihm kopfschüttelnd nach, aber dann griff er doch nach dem Telefon, wählte die eingespeicherte Nummer und erklärte seiner Mutter, dass es vielleicht ein bisschen später werden könnte. Er erzählte ihr vorsichtshalber nicht, dass sein Vater in eine Buchhandlung gegangen war. Das hätte dem Gespräch nur eine unnötige Schärfe verliehen.
Sein Vater war nämlich das, was geradehin ein Bücherwurm genannt wurde. Wenn er nur mal schnell in eine Buchhandlung ging - und sei es nur, um ein bestelltes Buch abzuholen wie jetzt -, dann war es so gut wie sicher, dass er nicht unter einer Viertelstunde wieder heraus kam; wahrscheinlich eher einer halben. Er fand immer etwas, in dem zu blättern oder auch ein paar Minuten zu lesen sich lohnte.
Es hatte eine Zeit gegeben - und sie war noch gar nicht so lange her -, da hatte Kim die Leidenschaft seines Vaters für Bücher hundertprozentig geteilt. Die riesige Bibliothek enthielt so ziemlich alles, was sich auf bedrucktes Papier bannen lies, von Reproduktionen ägyptischer Hieroglyphen über Lexika, prachtvolle Bildbände und Fachbücher bis hin zu Romanen und Abenteuergeschichten. Für die hatte sich Kim besonders interessiert. Er hatte damit angefangen, die Bücher von Karl May und Jules Verne zu lesen, später dann auch Bücher von Lovecraft, Poe und Dominik, bis hin zu den fantastischen Geschichten von Tolkien oder Marion Zimmer Bradley. Eine Weile war er sogar regelrecht davon besessen gewesen, in jene fantastische Welten voller Elfen und Kobolden einzutauchen, oder im Geiste auf der Brücke der Enterprise zu stehen und neue Galaxien und unbekannte Welten zu erforschen und zweimal war er sogar ...
Kim gestattete sich nicht, diesen Gedanken zu Ende zu denken. Es war vorbei. Was der Vergangenheit angehörte, das sollte man besser auch dort lassen - bevor es ihm am Ende noch so erging wie seinem Vater, dem die Erinnerung an seine eigene Jugend ja regelrecht peinlich zu sein schien.
Kim las heute noch gerne dann und wann einen fantastischen Roman oder sah sich zusammen mit seiner Schwester einen spannenden Fantasy- oder Sciencefiction-Film an, aber er war sich jetzt der Tatsache bewusst, dass all diese Geschichten sehr wenig mit dem wirklichen Leben zu tun hatten.
Wie zum Beispiel das halbe Dutzend Punker, das in diesem Moment im Rückspiegel sichtbar wurde.
Kim blinzelte und sah dann verblüfft auf die Uhr im Armaturenbrett. Mit noch größerer Verblüffung stellte er fest, dass er seit gut zehn Minuten hier saß und auf seinen Vater wartete. Er hatte gar nicht gemerkt, wie schnell die Zeit vergangen war.
Er sah wieder in den Spiegel. Es waren tatsächlich dieselben Punker wie die, die sich vorhin auf dem Gehweg vor der Imbissbude wichtig gemacht hatten. Vor allem einen besonders großen Burschen mit neongrünem Haar, weiten Pluderhosen und einer feuerroten Piratenbluse erkannte er sofort wieder; schon, weil der Bursche in seinem Aufzug durch und durch lächerlich aussah. Allerdings war er so groß und muskulös, dass es so schnell niemand wagte ihm das ins Gesicht zu sagen. Vor allem nicht jetzt, wo er sich in Begleitung von fünf weiteren, kaum weniger gefährlich erscheinenden Gestalten befand.