Kim schnupperte vorsichtig an dem Krug. Was der Wirt als Traubensaft bezeichnet hatte, das roch wie unheimlich starker Wein. Aber er musste den Krug ja nicht völlig leeren.
Etwas anderes aber fiel ihm auf. Die Männer starrten ihn unentwegt weiter an, aber sie wirkten plötzlich auf seltsame Weise gespannt. Zwei von ihnen hatten die Hände auf ihre Schwerter gelegt. Zwei weitere starrten den Krug an, den er in den Händen hielt. Kim ließ ihn wieder sinken.
»Ich glaube, ich möchte doch lieber Wasser«, sagte er.
»Ist dir unser Wein nicht gut genug?«, fragte der Krieger. »Oder verschmähst du unsere Gastfreundschaft?«
Kim hütete sich zu widersprechen. Die Stimmung war schon angespannt genug, auch ohne dass er diese Leute beleidigte. Er konnte ja wenigstens einen kleinen Schluck trinken.
Er setzte den Krug an und eine Sekunde, ehe seine Lippen den Wein berührte, explodierte der Tonkrug regelrecht in seinen Händen. Klebriger Wein spritzte über seine Hände und seine Brust und die Männer sprangen erschrocken zur Seite. Kim starrte eine halbe Sekunde lang verdattert auf den abgebrochenen Henkel, den er noch in der Hand hielt, dann hob er den Blick und sah zur Tür.
Sie war aufgegangen, ohne dass er es bemerkt hatte, und der Pack war in der sonnendurchfluteten Öffnung erschienen.
In der linken Hand hielt er einen runden Kiesel. Ein zweiter, gleichartiger Stein lag zwischen Kims Füßen, wohin er gefallen war, nachdem er den Weinkrug zerschmettert hatte.
Im nächsten Moment brach das reine Chaos los.
Der Wirt duckte sich mit einem erschrockenen Keuchen hinter seine Theke. Zwei Männer begannen vor Angst zu kreischen und duckten sich hinter Tische und Stühle und zwei weitere griffen nach ihren Schwertern, zögerten aber aus irgendeinem Grund noch, sie ganz zu ziehen. Nur der Krieger löste sich mit einer blitzschnellen Bewegung von seinem Platz und griff mit beiden Händen nach Kim.
Er hätte ihn auch zu fassen bekommen, hätte der Pack die Chance nicht genutzt, seinen zweiten Stein zu werfen. Er traf den Krieger zielsicher in den Nacken. Der Mann grunzte vor Schmerz, stolperte an Kim vorbei und fiel über die Theke - und offensichtlich genau auf den Wirt, denn von der anderen Seite erscholl ein zorniges Brüllen.
Kim erwachte endlich aus seiner Erstarrung - und keine Sekunde zu früh!
Einer der anderen Männer hatte sein Schwert aus dem Gürtel gezogen und ging auf ihn los. Aber seine Bewegungen waren seltsam zögernd; fast als hätte er Angst vor seinem eigenen Mut. Als er losstürmte, machte Kim einen Schritt zur Seite, griff instinktiv zu - und war nicht wenig erstaunt, als er plötzlich das Schwert hatte und der Mann verblüfft auf seine leeren Hände starrte.
Unverzüglich griff auch der zweite an. Kim hob automatisch das Schwert um den ersten Hieb zu parieren und etwas fast Unheimliches geschah: Es war, als erwache die Waffe in seiner Hand zu eigenem Leben. Kim verstand überhaupt nichts vom Schwertkampf, aber es war, als sage die Klinge ihm, was zu tun sei. Kim wurde mehr mitgerissen, als er das Schwert wirklich führte. Ohne Mühe parierte er den Schwerthieb, drehte die Klinge blitzschnell in der Hand und entwaffnete den Angreifer mit einem zweiten Hieb. Das Schwert flog scheppernd davon und der Mann stolperte mit einem erschrockenen Keuchen zurück, fiel über einen Schemel und schlug der Länge nach hin.
Während Kim fassungslos auf das Schwert in seinen Händen starrte, hörte er es hinter sich poltern und klirren, und als er sich herumdrehte, sah er, wie der Krieger hinter der Theke aufsprang und nach einem Bierkrug griff um damit nach ihm zu werfen. Kim zerschlug das Wurfgeschoss mit dem Schwert in der Luft, sprang zur Seite und spürte plötzlich, wie sich eine harte Hand um sein Fußgelenk schloss.
Irgendwie gelang es ihm sich loszureißen ohne dabei vollkommen das Gleichgewicht zu verlieren, aber die Zeit, die er dazu brauchte, reichte dem Krieger, um mit einer kraftvollen Bewegung über die Theke zu springen und nach dem Schwert zu greifen, das er auf dem Rücken trug. Mit einem wütenden Schrei zog er die Waffe aus der Scheide.
Der Raum war nicht hoch genug. Der Schwertknauf prallte mit einem dumpfen Laut gegen die Decke, noch bevor er die Waffe halb aus ihrer Umhüllung gezogen hatte. Kalk und kleine Putzbrocken regneten auf ihn herab und für einen Moment erschien ein so verdatterter Ausdruck auf seinem Gesicht, dass Kim fast laut aufgelacht hätte.
Aber nur fast.
Der Krieger griff nämlich mit der zweiten Hand nach ihm und packte ihn so hart an der Schulter, dass er vor Schmerz laut aufschrie. Das Schwert in seiner rechten Hand zuckte und er musste es regelrecht zurückreißen, damit es nicht nach dem Arm des Mannes schlug. Gleichzeitig versuchte er sich loszureißen, hatte aber gegen den viel stärkeren Krieger nicht die mindeste Chance.
Wieder war es der Pack, der ihn rettete. Der Gnom hüpfte mit einem schrillen Kreischen in die Höhe, landete auf den Schultern des Kriegers und begann mit beiden Fäusten auf seinen Schädel einzudreschen. Gleichzeitig biss er den Mann so kräftig ins Ohr, dass dieser mit einem Schmerzensschrei losließ und mit beiden Händen nach oben griff um den kleinen Quälgeist abzustreifen.
Kim riss sich los, stolperte zurück und prallte gegen einen der anderen Männer. Dieser versuchte ihn zu packen, sprang aber hastig wieder zur Seite, als Kim drohend das Schwert hob. Aus den Augenwinkeln sah er, wie der Krieger den Gnom packte und mit solcher Wucht hinter die Theke warf, dass ein ganzes Regal mit Flaschen und Tonkrügen zu Bruch ging. Dann ließ er sich blitzschnell auf ein Knie herabfallen und griff wieder nach oben um sein Schwert zu ziehen.
Wenn es ihm gelang, dann war er verloren, das war Kim klar. Aus einem ihm vollkommen unerklärlichen Grund schienen die Leute hier fast panische Angst vor ihm zu haben - aber das galt nicht für den Mann mit dem Brustpanzer. Und er trug den riesigen Zweihänder gewiss nicht zur Dekoration mit sich herum. Er musste hier heraus!
Kim wandte sich zur Tür - und erlebte eine neue, böse Überraschung. Die Tür stand weit offen und er konnte sehen, dass draußen mindestens ein Dutzend weiterer Männer angerannt kam, manche mit Schwertern oder langen Messern bewaffnet, einige auch mit Mistgabeln, Dreschflegeln oder einfachen Holzscheiten, die sie kurzerhand zu Keulen umfunktioniert hatten. Und an ihrem Ziel gab es nicht den geringsten Zweifel. Kim wirbelte abermals herum, sah, dass der Krieger mittlerweile seinen Zweihänder gezogen hatte, und überlegte nicht mehr länger. Er raste los, mobilisierte alle seine Kräfte und sprang durch das geschlossene Fenster.
In einem Hagel von Glasscherben und Holzsplittern landete er vor dem Gebäude und kam mehr durch Glück als durch Können wieder auf die Füße. Hinter ihm erscholl ein Chor enttäuschter Schreie. Er war auf der der Tür abgewandten Seite aus dem Gasthaus gekommen, sodass sich sein Vorsprung vor den wütenden Männern ein wenig vergrößert hatte. Aber der Mob schwenkte sofort herum und stürmte johlend und waffenschwingend in seine Richtung und in dem zerborstenen Fenster hinter ihm erschien das wutverzerrte Gesicht des Kriegers.
»Packt ihn!«, brüllte er. »Er darf nicht entkommen!«
Kim rannte verzweifelt los, ohne sich Gedanken über die Richtung zu machen. Jede Richtung war in Ordnung, solange sie weg von dieser blutrünstigen Menge führte.
Er rannte, so schnell er konnte. Trotzdem war seine Lage schier aussichtslos. Der kleine Ort lag inmitten leerer Felder und baumloser Wiesen. Es gab weit und breit nichts, wo er sich hätte verstecken können. Und seine Kräfte begannen allmählich nachzulassen.
Kim rannte noch gute hundert Schritte geradeaus, dann schwenkte er nach links, um so einen großen Bogen zu schlagen und den Ort zu umgehen. Vielleicht konnte er auf diese Weise den Vorsprung zu seinen Verfolgern weit genug vergrößern um das Gasthaus wieder zu erreichen und sein Pferd zu holen.
Es war keine besonders kluge Idee. Als er im Laufen den Kopf drehte, sah er, dass ein Teil der Verfolger bereits aufgegeben hatte und zum Dorf zurücktrottete. Der Großteil der Männer rannte allerdings nach wie vor hinter ihm her und vor allem der Krieger mit dem Brustharnisch hatte schon wieder deutlich aufgeholt. Der Mann würde nicht aufgeben. Und er zeigte auch nicht die geringste Spur von Erschöpfung, während Kims Beine mit jedem Schritt schwerer zu werden schienen.