Oder der Zauber...
Und dann endlich begriff Kim, was er tief in sich schon die ganze Zeit über gespürt hatte.
Der Zauber war aus Märchenmond gewichen.
Er gab in dieser Welt immer noch tapfere Krieger und gewaltige Schlachten, magische Orte und unerklärliche Kräfte, aber der wirkliche Zauber, das, was diesen Ort so sehr von den fantastischen Welten aus seinen Büchern und Filmen unterschied, war nicht mehr da. Es gab keine sprechenden Tiere mehr, keine Elfen und Feen, keine immer zu einem Schabernack aufgelegten Irrlichter, keinen tollpatschigen Riesen und keinen goldenen Drachen, auf dessen Rücken er weit ins Land fliegen konnte.
Lag es an ihm?
Obwohl diese Welt durchaus real und alle Gefahren hier auch sehr greifbar waren, war sie in gewissem Sinne seine Schöpfung. Märchenmond war die Welt seiner Träume. War es seine Schuld, dass aus einer Welt der Märchen und der Fröhlichkeit ein Land geworden war, in dem die Angst und die Gewalt regierten?
Der Gedanke ließ ihn erschauern. Vor allem, weil er so aussichtslos erschien. Dass dieses Land mit all seinen Geschöpfen und Wundern die Schöpfung seiner eigenen Träume war, bedeutete nicht, dass er hier die Macht eines Gottes oder überhaupt irgendeine Macht hatte.
Er begrub auch die anderen toten Elfen unter Blättern und suchte den Wald in einigem Umkreis ab, fand zu seiner Erleichterung aber keine weiteren toten Zauberwesen mehr. Schließlich kehrte er zu der Stelle zurück, an der er seinen Schild an den Baum gelehnt hatte.
Es war nicht mehr da.
Kim drehte sich verwirrt einmal im Kreis, dann verfinsterte sich sein Gesicht.
»Hör mit dem Unsinn auf, Pack!«, rief er. »Mir ist im Moment wirklich nicht nach deinen Scherzen zumute.«
Er bekam keine Antwort, aber nach ein paar Augenblicken hörte er das Brechen eines trockenes Zweiges hinter sich und drehte sich herum.
Hinter ihm war tatsächlich eine Gestalt zwischen den Bäumen erschienen. Aber es war nicht der Pack. Es war ein grauhaariger Mann in verschlissener Kleidung, der eine Eisenkeule in der rechten Hand trug und puren Hass in den Augen hatte.
Kim spürte die Gefahr, aber seine Reaktion kam zu spät. Etwas raschelte in den Baumwipfeln über ihm, dann fiel ein schweres, an den Rändern mit Steinen beschwertes Netz auf ihn herab und riss ihn zu Boden. Kim versuchte noch im Fallen sein Schwert zu ziehen, bekam die Waffe aber nicht einmal halb aus dem Gürtel. Praktisch gleichzeitig sprangen zwei, drei Gestalten zwischen den Bäumen hervor und stürzten sich auf ihn.
Kim versuchte trotz der Ausweglosigkeit seiner Lage sein Schwert vollends zu ziehen und sich aus dem Netz herauszuhacken, verstrickte sich aber sofort in den zähen Maschen und einen Augenblick später waren die Angreifer auch schon über ihm. Ein harter Schlag prellte ihm die Waffe aus der Hand, dann wurde er auf die Füße gezerrt und bekam zwei, drei harte Hiebe in Nacken und Leib, die ihm die Luft aus den Lungen trieben und ihm fast das Bewusstsein raubten.
Trotzdem versuchte er weiter sich zu wehren, mit dem einzigen Ergebnis allerdings, dass noch mehr Schläge auf ihn herunterprasselten. Hilflos sank er auf die Knie, bekam einen weiteren, harten Schlag in den Nacken und stürzte mehr ohnmächtig als wach auf die Seite. Er bekam kaum noch Luft und in seinem Mund war der Geschmack seines eigenen Blutes. Und noch immer prasselten Schläge auf ihn herab.
»Hört auf!«, befahl eine scharfe Stimme.
Kim wurde noch von zwei, drei weiteren Schlägen getroffen, aber gerade als er glaubte, nun endgültig das Bewusstsein zu verlieren, hörte es auf.
Für einen Moment hatte er nicht einmal mehr die Kraft, die Augen zu öffnen. Er hörte schwere Schritte, dann stieß ihn jemand grob in die Seite und eine andere Stimme sagte: »Warum hängen wir ihn nicht gleich auf? Genug Bäume sind ja hier.«
»Er hat Recht«, sagte eine dritte Stimme. »Hängen wir ihn auf oder schlagen ihn tot. Er hätte es verdient.«
»Das stimmt sogar«, sagte die erste Stimme. »Aber wir brauchen ihn noch. Wolf wird sehr froh darüber sein, endlich einen Gefangenen zu haben. Schickt einen Boten zu ihm und lasst ihm ausrichten, dass wir endlich einen von ihnen gefangen haben.«
»Ihr ... täuscht... euch«, murmelte Kim. »Ich gehöre nicht ... zu euren Feinden.«
Schnelle Schritte näherten sich, dann traf ihn ein derber Stoß in die Seite und die Stimme herrschte ihn an: »Wer hat dir erlaubt zu reden, Bürschchen?«
Der Stoß war so hart, dass Kim auf den Rücken rollte und einige Sekunden lang qualvoll nach Luft rang. Als sich der pochende Schmerz in seinen Rippen einigermaßen gelegt hatte, öffnete er die Augen und blickte in ein bärtiges, von langem grauem Haar eingerahmtes Gesicht, das mit unverhohlenem Hass auf ihn herabstarrte.
»Ich hoffe, du hast mich verstanden, mein Junge«, fuhr der Mann fort. »Du wirst nur reden, wenn ich dir eine direkte Frage stelle, hast du mich verstanden?«
Kim nickte.
»Gut«, fuhr der Grauhaarige fort. »Wenigstens machst du keine Schwierigkeiten. Ich würde dir auch nicht raten, irgendwelche Dummheiten zu versuchen. Wir werden dich jetzt aus dem Netz holen und dir Hände und Füße fesseln. Wenn du zu fliehen versuchst oder Widerstand leistest, töten wir dich. Ist das klar?«
»Ja«, antwortete Kim. »Aber Sie verwech -«
Ein harter Schlag ins Gesicht ließ ihn verstummen.
»Du sollst nur reden, wenn ich dir eine Frage stelle«, sagte der Grauhaarige.
Kim antwortete nicht laut, sondern nickte nur.
»Gut«, knurrte der Alte. »Wickelt ihn aus und fesselt ihn dann. Aber seid gründlich. Ihr wisst, wie gefährlich diese kleinen Teufel sind.«
Kim wurde grob in die Höhe gerissen und bekam noch einen harten Schlag zwischen die Schulterblätter; wahrscheinlich nur zur Vorsicht. Dabei hätte er sich nicht einmal wehren können, wenn er es gewollt hätte. Seine Hände wurden gepackt und auf dem Rücken zusammengebunden, dann wurde er erneut zu Boden gestoßen und grobe Stricke banden auch seine Füße zusammen.
»So hört mir doch zu!«, stöhnte Kim. »Ich gehöre nicht zu -« Diesmal wurde er nicht geschlagen. Einer der Männer zwang seine Kiefer auseinander, dann wurde ihm ein schmutziger Lappen in den Mund gestopft.
»Anscheinend versteht er unsere Sprache nicht«, sagte der Mann, der ihn geknebelt hatte.
»Gebt Acht, dass er nicht erstickt«, sagte der Grauhaarige, allerdings mit wenig Mitgefühl in der Stimme. »Wolf braucht ihn lebend.«
Kim wurde hochgehoben und ein kleines Stück durch den Wald getragen, bis sie die Stelle erreichten, an der er sein Pferd zurückgelassen hatte. Er wurde quer in den Sattel geworfen, dann griff einer der Männer nach den Zügeln und führte das Tier aus dem Wald hinaus.
Sie gingen den Weg zurück, den Kim vor einer halben Stunde gekommen war - quer über das Schlachtfeld und so nahe an der verwüsteten Ortschaft vorbei, dass er die Hitze der noch immer brennenden Häuser auf dem Gesicht spüren konnte. Der Rauch war so dicht, dass er gehustet hätte, hätte ihn der Knebel nicht daran gehindert. So konnte er nur qualvoll würgen und irgendwie versuchen nicht zu ersticken.
»Gefällt dir der Anblick, Junge?«, fragte der Mann, der sein Pferd am Zügel führte. »Ich hoffe, du genießt ihn. Es wird nämlich das letzte Mal sein, dass du überhaupt irgendetwas genießen kannst. Ich hoffe, du bist stolz auf das, was ihr getan habt.«
»Sei still, Harro«, sagte der Grauhaarige. »Du verschwendest deinen Atem.«
»Wir verschwenden alle nur Zeit«, antwortete Harro. »Er wird sowieso nicht reden. Sie reden nie.«
»Sie lassen sich auch nicht gefangen nehmen«, sagte der Grauhaarige. »Trotzdem haben wir den Burschen gefangen. Wolf wird ihn schon zum Reden bringen.«
»Vor allem nach der vergangenen Nacht«, fügte ein anderer hinzu.
»Wieso?«