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»Habt ihr es nicht gehört? Ein Verräter hat versucht ihn zu töten. Hätte er seine Rüstung nicht getragen, hätte der Pfeil sein Herz durchbohrt. So ist er mit einer Fleischwunde davongekommen.«

Kim hätte am liebsten laut aufgeschrien. O ja, dachte er. Wolf würde sich freuen, ihn in die Hände zu bekommen. Ganz besonders, wenn er ihn wieder erkannte ...

Wenn er wenigstens diesen verdammten Knebel loswerden könnte! Kim war sicher, dass er alles aufklären konnte, wenn es ihm nur möglich wäre, mehr als ein halbes Dutzend zusammenhängender Worte zu reden.

»Ich bleibe dabei«, fuhr Harro fort. »Wir sollten den Burschen auf der Stelle aufhängen. Oder besser noch -«

Kim erfuhr nie, welches Schicksal der Mann ihm zugedacht hatte. Ein scharfes Sirren erklang und plötzlich ließ Harro die Zügel los, griff sich an die Brust und brach in die Knie. Noch während er zur Seite kippte, schlossen sich seine Hände um den Schaft des Pfeiles, der ihn getroffen hatte.

Ein gellender Schrei erklang. Das Pferd scheute, stieg auf die Hinterläufe und warf Kim ab. Er versuchte den Kopf einzuziehen und alle Muskeln anzuspannen, um dem Aufprall die ärgste Wucht zu nehmen. Es gelang ihm auch, aber er blieb mit dem Gesicht nach unten liegen, sodass er nicht sah, was weiter geschah. Schreie und das Klirren von Metall waren zu hören und dann wieder das tödliche Sirren von Pfeilen.

Der Kampf dauerte nur ein paar Augenblicke, dann kehrte wieder fast unheimliche Stille ein, die für ein paar Sekunden anhielt. Danach erklangen Schritte, die sich rasch näherten. Kalter Stahl berührte Kims Handgelenke und seine Knöchel, als die Stricke durchgeschnitten wurden, dann durchtrennte ein noch schnellerer Schnitt seinen Knebel. Kim spuckte den schmutzigen Lappen aus, den man ihm in den Mund gestopft hatte, und wälzte sich auf den Rücken.

Über ihm stand ein junger Bursche mit schulterlangem, blondem Haar und durchdringenden hellblauen Augen. Er war in Weiß gekleidet, doch Hemd und Hose waren wie sein weißer Umhang verdreckt und zerschlissen.

»Lebst du noch?«, fragte der Junge spöttisch.

Kim setzte sich mühsam auf, betastete sein Gesicht und vor allem seine Rippen, die so unliebsame Bekanntschaft mit den Stiefelspitzen Harros gemacht hatten, und zuckte zur Antwort mit den Schultern. Selbst diese kleine Bewegung tat weh.

»Ich bin nicht ganz sicher«, sagte er.

Der Steppenreiter zog die linke Augenbraue hoch. Er lachte nicht. »Im Grunde sollten wir dich hier liegen lassen«, knurrte er. »Wer so dumm ist, sich von ein paar alten Tattergreisen einfangen zu lassen, der hat es nicht besser verdient.«

Kim sah den jungen Steppenreiter verwirrt an. Die Erleichterung, die er bei seinem Anblick verspürt hatte, begann sich schon wieder zu legen.

»Wie ist dein Name?«, fuhr der Steppenreiter fort.

»Kim«, antwortete Kim.

»Kim?« Der Steppenreiter schüttelte den Kopf. »Wie auch sonst? Anscheinend nennt jeder alte Tölpel, der einen Sohn bekommt, ihn nach dem großen Helden!« Er zog eine Grimasse.

Kim sah ihn verwirrt an, zog es aber vor zu schweigen.

»Zu welcher Einheit gehörst du?«, fuhr der Steppenreiter fort.

»Einheit?«

Das Gesicht des blonden Jungen verfinsterte sich. »Was ist los mit dir, Kerl?«, fragte er. »Bist du blöde oder willst du mich auf den Arm nehmen?«

»Lass ihn, Kai.« Ein zweiter Steppenreiter erschien neben dem ersten. Er war keinen Tag älter als dieser, aber ein gutes Stück größer. Trotz des spöttischen Tons in seiner Stimme blickten seine Augen gutmütig auf Kim herab. »Vielleicht ist er nur verwirrt.«

»Vielleicht hat er ja einen Schlag auf den Kopf bekommen«, fügte Kai hämisch hinzu. »Wo kommst du her ... Kim?«

Die Art, wie Kai seinen Namen betonte, gefiel Kim ganz und gar nicht. Aber der junge Steppenreiter hatte ihn auch auf eine Idee gebracht. Er starrte ihn einen Augenblick lang nur verständnislos an, dann zuckte er mit den Schultern und sagte schleppend: »Ich ... erinnere mich nicht.«

Kai schüttelte seufzend den Kopf. »Na, das kann ja heiter werden. Kannst du wenigstens reiten oder hast du auch vergessen, wie es geht?«

Statt zu antworten stand Kim auf und ging zu seinem Pferd. Dabei sah er sich verstohlen um. Zu Kai und dem zweiten Steppenreiter hatten sich noch drei weitere Gestalten gesellt. Sie trugen nicht die weißen Umhänge Caivallons, aber alle hatten eines gemeinsam: Sie waren sehr jung.

Kim griff nach dem Sattel, schwang sich hinauf und tätschelte beruhigend den Hals des Pferdes, als der Hengst nervös zu tänzeln begann.

»Ein prachtvolles Tier«, sagte Kai anerkennend. »Woher hast du es?«

Kim sah ihn nur an und Kai zog eine Grimasse und sagte: »Ach ja, richtig. Du erinnerst dich nicht.« Er trat zurück und wandte sich mit erhobener Stimme an die anderen: »Auf die Pferde! Wir haben noch einen langen Weg vor uns!«

Sie passierten den Wald, in dem Kim die toten Elfen gefunden hatte und in Gefangenschaft geraten war. Er machte keine entsprechende Bemerkung und sagte auch sonst nichts, aber er konnte nicht verhindern, dass sein Blick über den Waldrand glitt. Er lag noch immer so still und undurchdringlich da wie vorhin, aber Kim fragte sich jetzt nicht mehr, welche Gefahren oder auch Wunder sich in den Schatten verbergen mochten. Vielmehr beschlich ihn das unheimliche Gefühl, an einer gewaltigen Gruft vorbeizureiten.

Er hatte seinen Irrtum mittlerweile endgültig begriffen. Seit er Turocks Wald verlassen hatte, hatte er stets geglaubt, irgendetwas zu spüren, eine unterschwellige Gefahr vielleicht oder eine Bedrohung.

Das genaue Gegenteil war der Fall.

Er hatte nichts gespürt, er hatte etwas vermisst. Es war stets die Magie gewesen, die dieses Land zu etwas Besonderem gemacht hatte. Die eigenartige Bedrückung, die er empfand, war die Abwesenheit dieses Zaubers.

Seine Gefühle mussten sich wohl ziemlich deutlich auf seinem Gesicht widerspiegeln, denn als er sich schließlich vom Anblick des Waldes losriss und den Kopf drehte, begegnete er Kais Blick und er las in den Augen des jungen Steppenreiters dasselbe Misstrauen, das er in der vergangenen Nacht auf den Gesichtern der Männer im Gasthaus gesehen hatte. Er war längst nicht mehr sicher, ob er wirklich gerettet oder nicht vielmehr vom Regen in die Traufe geraten war.

Kais Blicke begannen ihm immer unbehaglicher zu werden. Eigentlich nur um überhaupt etwas zu sagen, wandte er sich im Sattel um, sah einen Moment zu dem brennenden Dorf zurück und fragte: »Wo kommt ihr überhaupt her? Ich dachte, das Heer wäre weitergezogen.«

»Ist es auch«, antwortete Kai. »Glück für dich, dass wir zurückgeschickt wurden um nach Verfolgern Ausschau zu halten.«

»Habt ihr sie gefunden?«

»Wenn wir das nicht hätten, dann würdest du jetzt nicht neben mir sitzen und eine so dumme Frage stellen können«, antwortete Kai grob. Er schüttelte den Kopf. »Diese alten Tölpel lernen es nie.«

»Wie meinst du das?«, fragte Kim. Im nächsten Moment hätte er sich am liebsten selbst auf die Zunge gebissen, denn das Misstrauen in Kais Augen verstärkte sich.

»Weil sie immer auf dieselbe Weise vorgehen«, antwortete der zweite Steppenreiter, dessen Namen Kim nicht kannte. Er schüttelte lachend den Kopf. »Sie verstecken sich irgendwo im Gebüsch und versuchen uns auszuspionieren. Das haben sie schon immer so gemacht -«

»- und deshalb machen sie es auch jetzt so!«, fügten alle anderen im Chor hinzu. Danach brachen sie in grölendes Gelächter aus.

Nur Kim blieb ruhig. Er verstand den Witz nicht.

»Ihr kommt aus Caivallon?«, fragte er nach einer Weile.

»Wieso fragst du?«, wollte Kai wissen.

»Nur so«, antwortete Kim. »Ich war einmal dort.«

»In Caivallon?«, vergewisserte sich Kai und auch der zweite junge Steppenreiter blickte überrascht in seine Richtung. Kim hatte plötzlich das Gefühl, einen Fehler begangen zu haben.