»Es ist lange her«, fügte er hinzu. »Ich erinnere mich kaum noch.« Er lachte nervös. »Deswegen habe ich ja auch gefragt. Ich dachte, einer von euch könnte mir von Caivallon erzählen. Es war sehr schön dort... glaube ich.«
»War ist das richtige Wort«, sagte Kai. »Es muss zehn Jahre her sein, dass wir es niedergebrannt haben.«
»Das ... wusste ich nicht«, sagte Kim stockend. Er war vollkommen schockiert. Caivallon und niedergebrannt? Das war lächerlich! Er sprach mit zwei Steppenreitern! Caivallon war ihre Heimat!
»Du weißt wirklich eine Menge nicht«, sagte Kai nachdenklich. »Wenn ich es nicht besser wüsste, dann würde ich glauben, dass du uns etwas vormachst.«
»Ich bin ... noch nicht lange dabei«, antwortete Kim und flehte, dass Kai nicht sofort fragte, wobei.
»Und wo warst du vorher?«, wollte Kai wissen.
»Im Osten«, antwortete Kim ausweichend. »Sehr weit im Osten. In der Nähe des Schattengebirges.«
»Das erklärt vieles«, sagte der zweite Steppenreiter. »Es heißt, dass dort seltsame Dinge vorgehen.«
»Was hast du dort erlebt?«, fragte Kai.
»Nichts, was wirklich von Bedeutung ist«, antwortete Kim. Er zog eine Grimasse und griff sich demonstrativ an den Kopf. »Lasst uns später darüber reden - bitte. Ich fühle mich nicht besonders.«
»Du kannst von Glück sagen, dass du noch lebst«, sagte Kai, aber der andere Steppenreiter sagte:
»Er hat Recht. Heute holen wir das Heer sowieso nicht mehr ein. Lasst uns eine Rast einlegen.«
»In diesem Wald?« Kai schüttelte den Kopf. »Das gefällt mir nicht.«
»Was soll schon passieren?«, fragte der Steppenreiter.
»Ich glaube auch, dass es dort drinnen nicht geheuer ist«, sagte Kim. »Ich habe einige tote Elfen gefunden, bevor ich überwältigt worden bin.«
»Elfen!« Kai zog eine Grimasse. »Ich dachte, dieses Ungeziefer wäre ausgerottet.«
Sie ritten noch eine gute Stunde weiter. In dieser Zeit näherten sie sich der Staubwolke, die Kim schon zuvor bemerkt hatte, und als es zu dämmern begann, glaubte er eine dunkle, formlose Masse an ihrem unteren Ende auszumachen. Wenn das das Heer war, dann war es kein Trupp von ein paar hundert Reitern, wie Kim bisher angenommen hatte, sondern eine gewaltige Armee, die wirklich nach Tausenden zählen musste, wenn nicht mehr.
»Wir rasten hier«, entschied Kai, als die Dämmerung immer rascher hereinbrach. »Dieser Ort gefällt mir nicht, aber es ist immer noch besser als bei Dunkelheit weiterzureiten.«
Kim hütete sich, nach dem Warum dieses Befehles zu fragen. Während der letzten Stunde war er immer schweigsamer geworden und Kai und die vier anderen hatten auch keine weiteren Fragen gestellt. Das allein war schon wieder ein neues Rätseclass="underline" Obwohl seine Geschichte streng genommen wenig glaubhaft klang, schienen die fünf Jungen ihn ganz selbstverständlich als einen der ihren akzeptiert zu haben. Ebenso selbstverständlich, wie ihn alle anderen bisher als Feind behandelt hatten. Dabei gab es eigentlich nichts, was er mit diesen Jungen gemeinsam hatte, abgesehen davon vielleicht, dass sie alle ungefähr im selben Alter waren.
Sie saßen ab. Kai und die anderen schlugen ein provisorisches Nachtlager auf, während Kim sich darauf herausredete, noch immer Kopfschmerzen zu haben, und sich am Waldrand niederließ.
Es wurde rasch dunkel. Seine neuen Begleiter entzündeten kein Feuer, sondern zogen trockenes Brot und kaltes Dörrfleisch aus ihren Satteltaschen, das sie mit ein paar Schlucken Wasser verspeisten.
Kim wartete darauf, dass es richtig dunkel wurde. Gegen seine Erwartung stellte Kai keine Wache auf, sondern legte sich ebenso wie alle anderen zum Schlafen hin. Kim würde eine Stunde verstreichen lassen und dann in aller Heimlichkeit verschwinden.
Es fiel ihm sehr schwer nicht einzuschlafen. Die Anstrengungen des zurückliegenden Tages forderten ihren Preis und natürlich verging die Zeit umso langsamer, je mehr er darauf wartete, dass sie verstrich.
Schließlich aber war er der Meinung, dass es genug sei. Neben ihm schnarchten Kai und die vier anderen um die Wette. Tiefer als jetzt würden sie nicht mehr schlafen.
Kim richtete sich lautlos auf und lauschte einen Moment mit angehaltenem Atem. Das Schnarchen der anderen hatte sich nicht verändert. Wenn man bedachte, dass die fünf Angehörige eines Heeres waren, das gerade eine ganze Ortschaft verwüstet hatten, dann hatten sie einen ziemlich guten Schlaf.
Er stand ganz auf, stieg mit einem vorsichtigen Schritt über den schlafenden Steppenreiter hinweg und versuchte das Gebüsch am Waldrand auseinander zu rücken ohne dabei ein verräterisches Geräusch zu verursachen. Er bedauerte es sehr, das Pferd zurücklassen zu müssen, aber das Risiko, quer durch das ganze Lager zu schleichen und den Hengst loszubinden, war einfach zu hoch.
Kim drang drei, vier Schritte weit in den Wald ein, blieb wieder stehen und lauschte. Er hörte nur das Hämmern seines Herzens. Der Wald war noch immer unheimlich still. Mehr denn je hatte er das Gefühl, sich in einer Gruft zu befinden, in der nicht nur nichts mehr lebte, sondern in der seine Gegenwart sogar störend war; schon fast so etwas wie ein Frevel.
»Darf ich fragen, was du hier suchst?«
Kim fuhr so erschrocken herum, dass er um ein Haar das Gleichgewicht verloren hätte. Kai war vollkommen lautlos hinter ihm aufgetaucht. Obwohl er kaum zwei Schritte von ihm entfernt war, konnte er ihn nur als hellen Schemen in der Dunkelheit erkennen.
»Wie?«, fragte Kim hilflos.
Kais Stimme wurde schärfer. »Was du hier tust, will ich wissen.«
»Was wird man schon vorhaben, wenn man im Dunklen allein ein paar Schritte in den Wald geht?«, fragte Kim. »Willst du mitkommen und zusehen?«
Kai machte eine ärgerliche Geste. »Dann beeil dich«, sagte er. »Wir müssen früh weiter. Ich möchte das Heer erreichen, bevor es aufbricht.«
Kim antwortete nur mit einem wortlosen Nicken darauf. Er ging noch ein paar Schritte tiefer in den Wald hinein, zählte in Gedanken bis zwanzig und ging dann zu Kai und den anderen zurück. Kai verlor kein Wort über den Zwischenfall, sah ihn aber mit unverhohlenem Misstrauen an, während Kim sich wieder auf dem Boden ausstreckte und nach seiner Decke griff. Einen Moment später ließ auch er sich wieder zurücksinken, schloss die Augen und schien in derselben Sekunde einzuschlafen.
Seine neuen Weggefährten weckten ihn am nächsten Morgen, lange bevor die Sonne aufging. Er fühlte sich, als hätte er überhaupt nicht geschlafen, und war so benommen, dass er im ersten Moment nicht einmal auf Kais Worte reagierte, sondern ihn nur verständnislos ansah.
Kai sagte noch etwas, in noch schärferem Ton, für Kims schlaftrunkenen Geist aber ebenso unverständlich, schüttelte dann ärgerlich den Kopf und stiefelte davon. Kim rieb sich benommen die Augen, gähnte und setzte sich dann auf. Kai und die anderen waren bereits dabei, die Pferde aufzuzäumen. Freundlicherweise hatten sie seinen schwarzen Hengst bereits gesattelt und auch die Fußfesseln waren schon gelöst.
Hinter ihm raschelte es ihm Gebüsch und für einen kurzen Moment lugte das haarige Gesicht des Pack zu ihm heraus. Das Wesen gestikulierte wild, gab aber nicht den geringsten Laut von sich, sondern verschwand nach einigen Sekunden wieder im Wald. Offensichtlich mochte der Pack seine neuen Freunde genauso wenig wie er.
Kim stand ganz auf, reckte sich ausgiebig und sah sich weiter verstohlen um. Die Jungen waren mit den Pferden fertig und begannen nun das Lager abzubauen. Sie sagten nicht viel, aber Kim entgingen auch nicht die ärgerlichen Blicke, die sie ihm immer wieder zuwarfen. Vermutlich nahmen sie es ihm übel, dass er faul dabeistand, während sie sich abmühten.
Er sah nach Süden. Am Horizont brannten zahlreiche Feuer. Sie waren dem Heer doch schon näher gekommen, als er gehofft hatte. Kim schätzte, dass sie allerhöchstens noch eine Stunde reiten mussten um es zu erreichen. Er ärgerte sich jetzt über sich selbst, dass er in der Nacht keinen zweiten Fluchtversuch unternommen hatte. Im Wald hätte er es nur mit Kai zu tun gehabt. Jetzt musste er gleich fünf misstrauischen Augenpaaren entkommen.