Die sechs Jungen - keiner von ihnen war auch nur einen Tag älter als Kim, die meisten wahrscheinlich ein oder zwei Jahre jünger - schlenderten gemächlich hinterher. Sie taten eigentlich nichts, außer sich dann und wann ein paar Worte zuzuwerfen oder laut zu lachen, aber der Bürgersteig gehörte ihnen trotzdem fast allein. Die Passanten wichen ihnen in weitem Bogen aus oder wechselten gar die Straßenseite und aus keinem einzigen der Geschäfte, an denen sie vorbeikamen, trat in diesem Moment ein Kunde heraus, was ganz bestimmt kein Zufall war. Ihr Aufzug und ihr Benehmen taten ihren Dienst. Aber während Kim die langsam näher kommende Gruppe weiter im Rückspiegel betrachtete, wurde ihm auch klar, dass sich sein Vater mindestens in einer Hinsicht geirrt hatte. Was die Jungen taten, war nicht bloß eine Provokation.
Sie verbreiteten Angst.
Als sie die halbe Strecke zurückgelegt hatten, fuhr ein Polizeiwagen vorbei. Während er die Gruppe passierte, wurde er deutlich langsamer. Der Beamte auf dem Beifahrersitz unterzog den wilden Haufen einer kritischen Musterung, gab seinem Kollegen aber dann einen Wink und der Wagen beschleunigte wieder. Einer der Burschen streckte ihm die Zunge heraus, der andere hob die Hand und zeigte dem Streifenwagen den ausgestreckten Mittelfinger. Alle brachen in grölendes Gelächter aus. Kim schüttelte seufzend den Kopf. Vielleicht wären ein bisschen mehr drakonische Strafen in dem einen oder anderen Fall doch nicht die schlechteste Lösung ...
Er verriegelte vorsichtshalber die Tür und sah nervös zu der Buchhandlung hin, in der sein Vater verschwunden war. Vielleicht wäre es gar keine schlechte Idee, ebenfalls dort hineinzugehen und in dem einen oder anderen Buch zu stöbern.
Dann schüttelte er leicht den Kopf. Diese Blöße würde er sich doch nicht geben.
Die Burschen erreichten den Wagen und schlenderten gemächlich daran vorbei ohne auch nur Notiz von ihm zu nehmen.
Kim ließ sich ein kleines Stückchen tiefer im Sitz nach unten rutschen, aber er beging den Fehler, den Punkern wie gebannt hinterherzustarren, als sie am Wagen vorbeigegangen waren.
Menschen spüren es manchmal, wenn sie angestarrt werden.
Jedenfalls spürte es der Junge mit dem grünen Haar und der Piratenbluse.
Er blieb urplötzlich stehen, drehte sich herum und sah zu Kim herein. Für eine halbe Sekunde, vielleicht weniger, begegneten sich ihre Blicke und in den Augen des Punkers war etwas, was Kim nicht nur abgrundtief erschreckte, sondern ihm auch klarmachte, dass er jetzt nur den Blick zu senken brauchte und die Sache wäre vorbei. Der Pirat hatte die Kraftprobe gewonnen und nichts würde geschehen.
Kims weiterer Fehler war, dass er es nicht tat, sondern dem Blick des Jungen trotzig standhielt.
Auch die fünf anderen Jungen blieben stehen und drehten sich einer nach dem anderem zu ihm herum. Zwei von ihnen blieben zurück, aber die anderen kamen langsam wieder näher, zusammen mit dem Anführer.
»Jetzt seht euch bloß mal diese Angeber an«, sagte ein schmächtiger Bursche mit schwarzen Lederstiefeln und einem gewaltigen Irokesenschnitt, der seinen Kopf lächerlich klein erscheinen ließ.
»Ja, richtig geil«, stimmte ein anderer in zerrissenen Jeans, zwei verschiedenfarbenen und gepiercten Nasenflügeln zu und ein dritter - er trug fast normale Kleidung, hatte aber eine Art umgedrehten Irokesenschnitt, nämlich einen gut fünf Zentimeter breiten, kahl geschorenen Scheitel - grinste: »Und erst das Bürschchen, das darin sitzt.«
Der vierte Junge, er war groß, kräftig und über und über mit Ketten, Metallbändern, Handschellen und klimpernden Metallringen behangen, dass er wahrscheinlich auf der Stelle festrosten würde, wenn er in den Regen kam, trat an den Kotflügel heran und ließ die flache Hand auf die Kühlerhaube klatschen. »Er darf in Papis Auto sitzen«, grinste er. »Bestimmt ist er ganz stolz darauf.«
»Ist ja auch eine geile Karre«, stimmte ihm Nummer fünf zu. Sein Aussehen war so bizarr, dass Kim es gar nicht versuchte es mit irgendetwas zu vergleichen. »Aber ich finde, der Kiste fehlen noch ein paar Ralleystreifen.«
Er hob eine schmale Hand mit einem dafür umso wuchtigeren Siegelring in Form eines Totenkopfes. Mit einem Geräusch, das Kim beinahe Zahnschmerzen bereitete, zog er ihn durch den Lack der Beifahrertür.
»He!«, brüllte Kim - und beging seinen dritten und schwersten Fehler, indem er mit einem Ruck die Tür aufriss und aus dem Wagen sprang. »Bist du wahnsinnig geworden?«
Der Junge wich mit einem Ausdruck von Angst, der nicht echt war, einen Schritt vor Kim zurück. Die Wagentür fiel mit einem dumpfen Laut ins Schloss und Kim sah aus den Augenwinkeln, wie der Junge mit der gepiercten Nase an ihm vorbei und dann hinter ihn trat.
Die Punker hatten ihn umkreist. Mit Ausnahme des Anführers - Kim wusste einfach, dass der Pirat der Rädelsführer der Bande war - grinsten alle schadenfroh und Kims Herz begann schneller zu schlagen. Der Vergleich erschien ihm fast selbst lächerlich, aber er fühlte sich plötzlich, als wäre er einer Gruppe höhnisch grinsender Trolle aus einer der fantastischen Geschichten eingekreist.
»Was willst du, Arsch?«, fragte der Bursche, der die Wagentür zerkratzt hatte.
Kims Gedanken überschlugen sich. Wenn er überhaupt noch eine Chance haben wollte, mit einem blauen Auge aus der Geschichte herauszukommen, dann durfte er jetzt auf keinen Fall Angst zeigen. Auch wenn er innerlich vor Furcht zitterte. »Seid ihr übergeschnappt?«, fragte er, zwar nicht in ganz so selbstsicherem Ton, wie er es gerne gehabt hätte, aber auch ohne dass seine Stimme vor Angst zitterte. »Der Wagen ist fast neu!«
»Deshalb habe ich ihn ja auch verziert«, antwortete der Bursche.
»Aber ich finde, der Kleine hat Recht«, sagte der Irokese. »Es sieht Scheiße aus, wenn eine Tür verkratzt ist.«
»Du meinst, ich sollte die andere Tür auch verzieren?«
»Mindestens! Am besten alle vier«, sagte der mit den Ketten. Kim unterdrückte nur noch mit letzter Kraft den Impuls, den Jungen neben sich einfach niederzustoßen und sich in den Buchladen zu retten. Er war nicht einmal sicher, ob ihm die Bande nicht gefolgt wäre.
Der Bursche mit dem Ring ging um den Wagen herum und zerkratzte gemütlich auch die Tür auf der Fahrerseite. Kim schluckte alles hinunter, was ihm auf der Zunge lag, und wandte sich mit erzwungener Ruhe an den Anführer. »Was soll denn der Quatsch?«, fragte er. »Ihr habt euren Spaß gehabt und jetzt hört auf. - Bitte«, fügte er nach hörbarem Zögern hinzu.
Der Pirat hatte bisher als Einziger kein Wort gesagt und er schwieg auch jetzt. Der Gepiercte lachte: »Jetzt fängt das Bübchen auch noch an zu betteln. Ist das nicht süß?«
»Wahrscheinlich hat er Angst, dass Papi ihm den Hintern versohlt, weil er nicht auf seine Proletenkarre aufgepasst hat«, fügte der Irokese hinzu. Dann versetzte er Kim einen Stoß in den Rücken, der ihn in die Arme des Metallbehangenen stolpern ließ. Der Bursche schnappte ihn, wirbelte ihn herum und stieß ihn gegen den mit dem breiten Scheitel. Kim blieb die Luft weg und er hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten, als er in die Richtung des Irokesen geschubst wurde.
Der nächste Fehler war, dass er sich diese Behandlung nicht gefallen ließ, sondern eine instinktive Bewegung machte, die man zumindest als Angriff auslegen konnte.
Darauf hatte der Irokese nur gewartet. Kim bekam einen harten Schlag in den Magen, taumelte heftig nach Luft japsend gegen den Wagen und sah eine Faust mit einem Siegelring in Form eines Totenkopfes auf sich zu fliegen. Sein Versuch, dem Hieb auszuweichen, kam zu spät.
Es tat so weh, dass er im ersten Augenblick Sterne sah und jeden Gedanken an weiteren Widerstand aufgab. Er duckte sich, hob die Hände vor das Gesicht und wartete auf weitere Schläge.
Stattdessen sagte eine scharfe Stimme: »Was geht hier vor?«
Kim nahm die Hände herunter und sah, wie sein Vater aus der Buchhandlung trat. Er war nicht allein. Der Besitzer des Geschäftes folgte ihm, aber in etwas zu großem Abstand und seine Bewegungen wirkten sehr nervös.