Kims Vater hingegen trat dem Piraten ohne die leiseste Spur von Unsicherheit entgegen und fragte noch einmaclass="underline" »Was ist hier los?« Wie Kim schien er den Burschen instinktiv als Anführer der Gruppe ausgemacht zu haben.
»Misch dich lieber nicht ein«, sagte der Punker. »Das hier geht dich nichts an.«
»Ich denke schon«, antwortete Kims Vater ruhig. »Zufällig ist das nämlich mein Auto. Und ebenso zufällig auch mein Sohn.«
»Dein Pech«, erwiderte der Pirat. Er blieb ganz ruhig, aber Kim sah voller Schreck, dass er nicht nur zwei Fingerbreit größer war als sein Vater, sondern auch um einiges muskulöser. Während er sprach, verloren die anderen Punker schlagartig das Interesse an Kim und begannen sich um seinen Vater zusammenzurotten. Der Buchhändler wich rasch wieder in sein Geschäft zurück, vielleicht um die Polizei zu rufen, aber dieser Entschluss kam natürlich zu spät.
Noch während Kim verzweifelt überlegte, was er tun könnte, erklang am Ende der Straße das Heulen einer Sirene. Kim fuhr überrascht herum und sah den Streifenwagen mit zuckendem Blinklicht heranrasen. Offenbar hatten die Beamten dem Frieden doch nicht getraut und waren nur einmal um den Block gefahren.
Die Punker reagierten blitzschnell und rasten in verschiedene Richtungen davon; auf diese Weise konnte der Streifenwagen allerhöchstens einen von ihnen erwischen. Die Bande hatte offensichtlich Erfahrung in dieser Art des strategischen Rückzugs.
Der Streifenwagen raste mit heulender Sirene heran und bremste im letzten Moment ab. »Ist jemand verletzt?«, rief der Beamte auf der Beifahrerseite. »Was ist passiert?«
Kim wollte antworten, aber sein Vater kam ihm zuvor. »Es ist nichts«, sagte er. »Nur ein Missverständnis. Es gibt keinen Grund zur Aufregung.«
Der Polizeibeamte tauschte einen überraschten Blick mit seinem Kollegen, dann sah er den davonrennenden Punkern hinterher.
»Sind Sie sicher?«, fragte er schließlich.
»Ganz sicher«, antwortete sein Vater. Er lachte. »Sie wissen ja, wie diese Kinder sind.«
Die Sirene des Polizeiwagens verstummte. Aber er fuhr keineswegs ab, sondern rollte nur ein paar Meter weiter an die Bordsteinkante und hielt dann an. Kim sah, wie der Beamte hinter dem Steuer nach dem Funkgerät griff und hineinzusprechen begann. Der andere stieg aus und setzte seine Mütze auf, während er sich seinem Vater näherte.
»Vielleicht sollten Sie mir das doch genauer erklären«, sagte er. Sein Blick streifte den frischen Kratzer auf der Wagentür und er runzelte die Stirn. »Und wo wir schon einmal gerade dabei sind, zeigen Sie mir doch bitte auch gleich mal ihre Papiere.«
Es dauerte eine ganze Weile, bis sich der Polizeibeamte endlich zufrieden gab und sie abfahren konnten. Sein Vater hatte es so eilig, dass er sogar vergaß in den Laden zurückzugehen und seine Bücher zu holen. Kim hatte sich die ganze Zeit über nicht aus dem Wagen gerührt und er hütete sich auch in den ersten Minuten nur ein einziges Wort zu sagen oder auch nur mit seinem Vater in Blickkontakt zu treten, sondern wandte den Kopf in die entgegengesetzte Richtung, sah aus dem Fenster und massierte in Gedanken verloren sein Auge.
»Tut's weh?«, fragte sein Vater.
»Ein bisschen«, gestand Kim. Jetzt, wo sein Vater von sich aus das Schweigen gebrochen hatte, fiel es auch Kim leichter zu reden. »Vielen Dank«, sagte er. »Das war sehr mutig von dir.«
»Das war nicht mutig, das war äußerst dumm«, antwortete sein Vater. Er ließ offen, ob er damit sein eigenes Verhalten meinte oder das Kims. »Ich wage gar nicht mir vorzustellen, was hätte passieren können, wenn der Polizeiwagen nicht aufgetaucht wäre. Ich bin innerlich fast gestorben vor Angst.«
»Davon hat man nichts gemerkt.«
»Bin ich aber!«, sagte sein Vater heftig. »Du glaubst wohl nicht, dass ich auch nur die geringste Chance gegen diese Burschen gehabt hätte! Du hast sie doch gesehen, oder?«
»Warum hast du es dann trotzdem getan?«
»Na, du bist vielleicht gut!« Sein Vater blickte ihn giftig an. »Hätte ich vielleicht zusehen sollen, wie sie dich durch die Mangel drehen? Warum bist du überhaupt ausgestiegen?«
»Na, weil... weil sie den Wagen verkratzt haben«, antwortete Kim verunsichert. Das war nicht ganz die richtige Reihenfolge, spielte aber jetzt auch keine Rolle.
»Wir haben also einen Kratzer in der Autotür«, sagte sein Vater. »Das ist ärgerlich. Und was haben wir jetzt? Jetzt haben wir zwei zerkratzte Türen, du hast ein blaues Auge, ich wäre um ein Haar verprügelt worden und hatte Stress mit der Polizei.« Er warf Kim einen raschen Seitenblick zu und in seinen Augen erschien ein Ausdruck unverhohlener Schadenfreude. »Das ist übrigens ein hübsches Veilchen, wenn ich das richtig sehe.«
»Ich werde es überleben«, sagte Kim. Er war ziemlich ärgerlich. Das klang ja fast so, als ob sein Vater ihn für den Zwischenfall verantwortlich machen würde!
»Aber es war nicht besonders klug«, sagte sein Vater noch einmal. »Ich kann dich ja gut verstehen. Mir kommt auch die Galle hoch, wenn ich sehe, wie sich die Kerle benehmen. Aber manchmal ist es einfach klüger, sich nicht provozieren zu lassen.«
»Wieso hast du den Polizisten nichts gesagt?«, fragte Kim. »Sie hätten sich schon um die Burschen gekümmert.«
»Ach ja?«, erwiderte sein Vater. Sein Ton wurde schärfer. »Sie hätten sie ein bisschen gejagt, vielleicht ein oder zwei von ihnen gefangen und möglicherweise für ein paar Stunden eingesperrt. Ich hätte zum Anwalt gehen müssen, endlose Formulare ausfüllen und Stunden um Stunden auf dem Gericht verbringen müssen. Die Burschen wären vielleicht wegen Sachbeschädigung verurteilt worden und je nachdem, was sie schon alles ausgefressen haben, möglicherweise sogar zu einer Jugendstrafe. Was ihre Chancen nicht unbedingt verbessert hätte, falls sie irgendwann doch noch einmal zur Vernunft kommen sollten. Und so ganz nebenbei: Den Lackschaden hätte ich mir sowieso selber bezahlen müssen, weil bei den Kerlen garantiert nichts zu holen ist.« Er schüttelte den Kopf. »Fragst du mich wirklich, warum ich die Polizisten weggeschickt habe?«
Natürlich hatte sein Vater mit allem, was er sagte, Recht. Aber das war nicht die ganze Wahrheit. Kim konnte das Gefühl nicht richtig in Worte fassen, aber da war noch mehr. Auch wenn es bestimmt nicht sehr klug gewesen war, sich mit den Burschen anzulegen - wenn er ehrlich zu sich selber war, dann musste er zugeben, dass er vermutlich nicht einmal mit einem von ihnen fertig geworden wäre, geschweige denn mit sechs -, hätte er es einfach nicht ertragen können tatenlos dazusitzen und sich feige vorzukommen.
Der Rest der Fahrt verlief in unangenehmem Schweigen. Vater rief von unterwegs aus noch einmal zu Hause an um ihre Verspätung zu erklären, sodass der erwartete Krach ausblieb. Aber natürlich war der Zwischenfall vor der Buchhandlung auch beim Mittagessen das einzige Gesprächsthema. Kims jüngere Schwester Rebekka konnte die Geschichte gar nicht oft genug hören - vor allem den Teil, in dem Kim eins aufs Auge bekommen hatte - und entwickelte sich zu einer regelrechten Nervensäge, bis es schließlich auch seinem Vater zu viel wurde und er mit scharfen Worten für Ruhe sorgte. Kaum hatten sie zu Ende gegessen, da bat Kim aufstehen zu dürfen und trollte sich in sein Zimmer.
Er musste sich beherrschen um nicht die Tür hinter sich zuzuknallen. Während sich sein Vater im Laufe des Essens wieder beruhigt und am Ende sogar seine Scherze über den Zwischenfall gemacht hatte, war Kim immer wütender geworden, wenn auch ohne es sich anmerken zu lassen. Er wusste gar nicht genau, warum.
Es war nicht das erste Mal, dass er mit einem blauen Auge oder einer anderen Blessur nach Hause kam. In seinem Alter gehörte eine kleine Prügelei dann und wann einfach dazu. Und obwohl er kein Schwächling war, gewann er längst nicht immer.