Sturm hatte sich weit genug erholt um aus eigener Kraft laufen zu können - wenigstens solange Kim und der Pack ihn abwechselnd stützten. Die Elfe hatte ein kleines Wunder vollbracht. Seine Wunden sahen noch immer schlimm aus und sie bereiteten ihm auch noch große Schmerzen, aber sie bluteten nicht mehr und hatten bereits sichtbar zu heilen begonnen.
Sie hatten eine weitere Gangkreuzung erreicht und waren dem nach oben führenden Weg ein Stück weit gefolgt, als Kim einen schwachen, kühlen Lufthauch auf dem Gesicht spürte. Er blieb stehen, sah konzentriert nach vorne und erblickte nichts als Dunkelheit. Aber der Luftzug war da, ganz eindeutig.
»Ich merke es auch«, sagte Twix. »Ich fliege voraus und sehe nach.«
Sie verschwand, noch bevor einer von ihnen etwas sagen konnte, und Kim löste sanft Sturms Arm von seiner Schulter und ließ ihn behutsam zu Boden sinken.
»Es wird sowieso Zeit für eine Pause«, sagte er.
Sturm blickte ein wenig schuldbewusst drein. »Ich kann versuchen aus eigener Kraft weiterzugehen«, sagte er.
»Du sagst es«, murmelte Kim erschöpft. »Du kannst es versuchen.«
»Es tut mir Leid«, sagte Sturm niedergeschlagen. »Ich weiß, dass ich euch große Mühe bereite. Ihr habt mir das Leben gerettet... Wie kommt ihr überhaupt hierher?«
»Das beantworte ich dir, sobald du uns verraten hast, wie du hierher gekommen bist«, sagte Kim. Er deutete mit einer müden Geste auf die Spinne. »Sie hat erzählt, dass du dich mit uns treffen wolltest. Aber das ist drei Tage her.«
»Das wollte ich auch«, sagte Sturm. »Aber dann wäre ich fast auf Kais Heer gestoßen. Ich musste einen großen Umweg machen um ihnen nicht geradewegs in die Arme zu laufen. Unterwegs hörte ich dann von den Zwergen.« Seine Stimme wurde leiser. Ein Ausdruck von Trauer trat auf seine Züge. »Sie stehlen überall auf der Welt magische Dinge, wisst ihr? Ich dachte, wenn ich einen Teil davon erbeute und zu Themistokles zurückbringe, dann könnte das vielleicht den Schaden wieder wettmachen, den ich in meinem Leichtsinn angerichtet habe.«
»Aus demselben Grund sind wir auch hier«, sagte Kim. Er deutete in die Richtung, in der die Elfe verschwunden war. »Twix hat die Magie gespürt, die an diesem Ort versammelt ist. Aber es nutzt nichts, weißt du? Die Zwerge werden uns nie helfen. Und wir sind nicht stark genug ihnen ihren Schatz mit Gewalt wegzunehmen.«
»Hätte auch nichts genutzt«, fügte die Spinne hinzu. »Sie ist verdorben, jetzt, wo hundert Zwergenhintern darauf herumgerutscht sind.«
Der Pack meckerte zustimmend und selbst Kim nickte noch einmal. Er hätte es sicher etwas weniger drastisch ausgedrückt, aber in der Sache hatte die Spinne Recht. Selbst er hatte gespürt, dass die Zwerge die Magie zu etwas ... anderem gemacht hatten. Vielleicht nicht einmal etwas Schlechtem, wie die Spinne annahm, aber auf jeden Fall zu etwas, was ihnen nicht mehr helfen würde.
»Wie konnten sie dich überhaupt fangen?«, fragte er.
Sturm senkte unbehaglich den Blick. »Sie haben mich ... überrumpelt«, gestand er. »Anscheinend kann ich überhaupt nichts richtig machen.«
Kim spürte, wie unangenehm Sturm das Thema war, aber er zog es vor, gar nicht darauf zu antworten. Jeder Versuch, Sturm irgendwie zu trösten, hätte die Situation für ihn nur noch schlimmer gemacht.
Zu seiner Erleichterung kam in diesem Moment Twix zurück. »Du hattest Recht«, piepste sie. »Da oben geht es raus.«
Kim wollte unverzüglich aufstehen, aber die Elfe winkte ab. »Der Weg ist nicht leicht für euch. Ihr müsst ein gutes Stück klettern. Ruht euch lieber noch einen Moment aus. Ich schaue nach, ob die Luft rein ist!«
Sie verschwand in dem Gang, durch den sie gekommen waren, und Kim ließ sich wieder zurücksinken. Selbst wenn sie hier heraus waren, lag noch ein anstrengender Weg vor ihnen. Immerhin befanden sie sich mitten im unwegsamsten Teil des Schattengebirges.
»Und was tun wir jetzt?«, fragte Sturm. »Ich meine, wenn wir hier heraus sind? Märchenmond ist verloren und es ist alles meine Schuld. Warum habt ihr mich nicht bei den Zwergen gelassen? Das wäre nur gerecht gewesen.«
»Heulsuse«, sagte die Spinne.
»Märchenmond wird untergehen und es ist alles meine Schuld!«, beharrte Sturm.
»Es gibt immer einen Weg«, beharrte Kim. »Ich war schon mehr als einmal in einer Situation, die völlig aussichtslos erschien. Und es hat immer einen Ausweg gegeben.«
»Irgendwann ist immer das erste Mal«, unkte Sturm. »Du kannst es nicht wissen, denn du warst ja schon fort, aber Gorywynn ist so gut wie ausgestorben. Fast alle seine Bewohner sind gegangen um sich dem einen oder anderen Heer anzuschließen. Themistokles sind nur eine Hand voll Verbündete geblieben. Und seine Kräfte schwinden von Tag zu Tag, während die des Magiers der Zwei Berge im gleichen Maße zuzunehmen scheinen.«
»Der Magier der Zwei Berge.« Kim schüttelte den Kopf. »Immer wieder er! Wieso folgen Kai und die anderen ihm eigentlich, wenn sie jede Art von Magie doch angeblich so verabscheuen?«
»Er ist kein richtiger Magier«, antwortete Sturm. »Er nennt sich nur so. Aber er ist ein uralter und sehr, sehr böser Mann. Und er hat großen Einfluss auf Menschen. Vor allem auf junge Menschen.«
»Woher weißt du so viel über ihn?«, fragte Kim.
Sturm hob die Schultern. »So viel ist es nicht«, sagte er. »Nicht viel mehr, als ich gerade erzählt habe. Es heißt, er besitzt die Gabe, sich in die Herzen und Köpfe der Menschen zu schleichen und ihre Gedanken zu verdrehen - was immer damit auch gemeint sein mag. Er ist unsterblich und kann sein Aussehen verändern, aber damit hören seine magischen Kräfte auch schon auf. Allerdings soll er in der Lage sein sich die Magie anderer zunutze zu machen. Das war wohl auch der Hauptgrund, aus dem Themistokles all seine Zauberkraft in die Kugel gebannt hat - um sie vor seinem Zugriff zu schützen.«
»Wenn er so gefährlich ist, wieso habe ich dann noch nie von ihm gehört?«, wunderte sich Kim.
»Er ist uralt«, antwortete die Spinne an Sturms Stelle. »Er wurde schon vor langer, langer Zeit von Themistokles und einigen anderen Magiern überwältigt und eingesperrt. Es heißt, er wäre jahrhundertelang eingesperrt gewesen.«
Kim beschlich ein seltsames Gefühl, das er gar nicht genau begründen konnte. »Und dann?«, fragte er.
»Und dann ist er wohl aus seinem Gefängnis entkommen, sonst wäre er kaum hier«, antwortete die Spinne patzig.
»Aber wie? Ich meine ...«
»Zwerge!« Twix kam lauthals kreischend aus dem Tunnel herausgeflogen. »Zwerge! Hunderte, wenn nicht Tausende! Verschwindet!«
Hastig sprangen sie auf die Füße und stürmten los. Kaum hatten sie es getan, da hörten sie auch schon das Trappeln zahlreicher Schritte hinter sich, aufgeregtes Stimmengewirr und das Klappern von Metall. Es waren sicher nicht Tausende von Zwergen, wie Twix behauptet hatte, aber vermutlich mehr als genug.
Schrecken und Furcht verliehen selbst Sturm zusätzliche Kräfte, sodass sie ihn nicht mehr stützen mussten. Die Spinne fiel ein kleines Stück zurück um ein paar Stolperdrähte zu spannen.
Nur wenige Augenblicke später verkündete ein gewaltiges Scheppern und Krachen und ein Chor wütender Stimmen hinter ihnen, dass sie ihre Wirkung getan hatten. Die Spinne wiederholte ihr Manöver, aber die Zwerge fielen offensichtlich nicht noch einmal darauf herein.
Sie rannten, so schnell sie nur konnten. Der Weg führte immer steiler nach oben und es vergingen nur noch wenige Augenblicke, bis es vor ihnen hell wurde. Das musste der Ausgang sein, von dem Twix gesprochen hatte.