Der Anblick gab Kim noch einmal zusätzliche Kraft. Er sprintete ein Stück voraus - und blieb enttäuscht stehen.
Der Tunnel endete in einer großen, halbrunden Höhle. Es gab keinen zweiten Ausgang, sondern nur ein rundes, vielleicht einen Meter messendes Loch in der Decke unmittelbar über ihren Köpfen, durch das helles Sonnenlicht hereinfiel. Das also hatte Twix gemeint, als sie sagte, es würde eine anstrengende Kletterei werden.
Auch die anderen stürmten herein. Die Spinne keuchte entsetzt, als sie die Falle sah. »Das war's dann wohl«, sagte sie.
»Nicht für dich.« Kim deutete nach oben. »Twix und du, ihr könnt verschwinden.«
»Vergiss es«, sagte Twix. Die Spinne würdigte ihn nicht einmal einer Antwort und auch Kim sagte nichts mehr.
Ihm wäre auch gar keine Zeit dazu geblieben. Aus dem Gang, durch den sie selbst gekommen waren, stürmten Zwerge. Fünf, sechs, ein Dutzend ...
Kim zog sein Schwert, Sturm hob die linke Hand und plötzlich fauchte aus dem Nichts eine Windböe über die Zwerge hinweg und wirbelte sie wie trockenes Herbstlaub durcheinander. Etliche verschwanden wieder in dem Stollen, aus dem sie gerade erst herausgestürmt waren, andere wurden gegen die Wand geschleudert und sanken benommen zu Boden.
Aber Kims Freude über diese unerwartete Hilfe währte nicht lange. Die Böe verschwand ebenso plötzlich wieder, wie sie gekommen war, und Sturm taumelte mit einem erschöpften Seufzer zurück.
»Es tut mir Leid«, murmelte er. »Meine Kräfte sind erschöpft.«
Kim packte mit grimmiger Entschlossenheit sein Schwert fester. Aus der Tunnelöffnung stürmten immer mehr und mehr Zwerge, die aber nicht sofort angriffen, sondern sich vor der gegenüberliegenden Wand zusammenrotteten, vermutlich, um sich alle gemeinsam auf sie zu stürzen. Kim schätzte, dass es mindestens dreißig waren. Keine Chance. Aber er würde sein Leben so teuer wie möglich verkaufen.
Endlich hörte der Zustrom an Zwergen auf, aber sie griffen immer noch nicht an, sondern gruppierten sich umständlich ein paar Mal um, wobei sie ununterbrochen stritten; wie Kinder, die ein kompliziertes Spiel spielten, sich über die Regeln aber nicht einigen konnten. Schließlich hatten sie eine Art wackelige Schlachtformation eingenommen, bei der ungefähr die Hälfte ihrer Speere auf Kim und die anderen, der Rest auf ihre eigenen Kameraden wies.
Dann spürte Kim, dass die Zwerge endlich bereit waren anzugreifen. Doch bevor es dazu kam, begann der Boden unter ihren Füßen zu zittern. Ein unheimliches Grollen und Knirschen erklang - und plötzlich zerbarst die Wand direkt hinter den Zwergen wie unter einem Hammerschlag. Tonnen von Felsen und Steintrümmern regneten herab und begruben den größten Teil der Zwerge unter sich. Die wenigen, die davonkamen, ließen ihre Waffen fallen und suchten ihr Heil in der Flucht. Ein ungeheueres, zorniges Brüllen erklang und inmitten einer Wolke aus wirbelndem Staub und noch immer herabregnenden Steinen erschien der Drachenschädel in der Öffnung, die er selbst in die Wand gebrochen hatte.
»Hab ich euch endlich!«, brüllte er. »Ich habe euch gesagt, dass ihr damit nicht davonkommt. Jetzt seid ihr dran!«
Er warf sich mit einem neuerlichen, noch wütenderen Brüllen vor. Seine Kiefer schlugen mit einem dumpfen Laut nur eine Handbreit vor Kims Gesicht aufeinander und der gesamte Berg schien in seinen Grundfesten zu erbeben, als der Drache gegen den Felsen anrannte um das von ihm selbst geschaffene Loch noch mehr zu erweitern.
Es gelang ihm nicht, aber in der Decke über ihren Köpfen entstand ein breiter, gezackter Riss, der in rasender Geschwindigkeit wuchs und schmalere, fein verästelte Seitentriebe in alle Richtungen sandte wie ein gewaltiger Blitz, der den gesamten Nachthimmel spaltete.
Der Drache rannte noch einmal gegen den Felsen an und ein einzelner Stein löste sich von der Decke und prallte von seiner Nase ab.
Einen Moment später folgte ihm der Rest der Höhlendecke nach und begrub den Drachen unter sich.
Kim riss schützend die Hände vor das Gesicht und drehte sich zur Seite. Der Staub wirbelte so dicht, dass er kaum noch Luft bekam und gegen den qualvollen Hustenreiz ankämpfte, und die Höhle war plötzlich voller hellem Sonnenlicht, das den hochgewirbelten Staub aufleuchten ließ und ihre an stundenlanges Halbdunkel gewöhnten Augen für einen Moment fast blind machte. Praktisch die gesamte Höhlendecke war eingestürzt. Die Felstrümmer hatten nicht nur den Drachen unter sich begraben, sondern bildeten auch einen schrägen Geröllhügel, über den sie beinahe bequem nach oben klettern konnten.
Kim war der Letzte, der ins Freie kroch. Während er sich erschöpft auf einen Felsen sinken ließ, sah er sich nach den anderen um. Abgesehen von Twix waren sie allesamt von einer grauen, puderigen Staubschicht bedeckt. Aber allem Anschein nach waren sie wohl alle mit dem Schrecken davongekommen, sah man von ein paar Kratzern und Schrammen ab.
»Weiter!«, sagte die Spinne. »Nichts wie weg hier!«
»Bitte!«, stöhnte Kim. »Nur fünf Minuten! Ich brauche einfach eine kleine Pause.«
»Warum wirfst du nicht einen Blick hinter dich?«, schlug die Spinne vor. »Ich bin sicher, das muntert dich auf.«
Mit einem ziemlich unguten Gefühl tat Kim, was die Spinne vorgeschlagen hatte.
Es erwies sich als nur zu berechtigt.
Inmitten der Felstrümmer richteten sich immer mehr und mehr kleine Gestalten in schwarzen Umhängen auf, die wütend durcheinander schnatterten und zerbrochene Waffen in ihre Richtung schüttelten. Die Spinne hatte Recht: Dies war eindeutig nicht der Moment um eine Rast einzulegen.
Er blickte in die andere Richtung - und erlebte eine Überraschung. Obwohl sie eine gute Stunde ununterbrochen bergauf gelaufen waren, befanden sie sich nun wieder fast am Fuße des Schattengebirges. Unter ihnen lag ein aus Felsspat und Stein gebildeter steiler Hang, der nach wenigen hundert Schritten in die geröllübersäte Ebene überging, die dem eigentlichen Gebirge vorgelagert war. Die Hinrichtungshöhle der Zwerge musste sich tief unter der Erde befinden. Und es war früher Morgen. Es war nicht das erste Mal, dass Kim erlebte, wie gründlich die Zwergenwelt sein Empfinden für Raum und Zeit durcheinander brachte, aber das Gefühl war jetzt so unheimlich wie beim allerersten Mal.
Sie standen auf und begannen in raschem Tempo den Hang hinunterzulaufen. Kim musste gegen den Impuls ankämpfen loszurennen, so schnell er konnte. Das Gehen auf dem abschüssigen Boden war schwer genug. Rennen würde nicht viel nutzen, ihnen aber auch noch das letzte bisschen Kraft nehmen.
Immer wieder drehte er den Kopf und sah in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren. Der Anblick wurde jedes Mal schlimmer. Der Berghang war übersät mit Gestalten in schwarzen Umhängen. Es mussten jetzt schon weit über hundert sein und ihre Zahl nahm immer noch zu. Offenbar wollten die Zwerge dieses Mal auf Nummer sicher gehen. Sie würden erst angreifen, wenn sie genügend waren um sie gleich beim ersten Mal einfach zu überrennen.
»Das gefällt mir nicht«, sagte Sturm neben ihm. »Warum verfolgen sie uns nicht?«
»Nur keine Sorge«, sagte die Spinne. »Das kommt schon noch früh genug. Du kannst es wohl gar nicht abwarten, deine kleinen Freunde wieder zu sehen, wie? Hast du sie so sehr ins Herz geschlossen?«
Kim musste Sturm jedoch insgeheim beipflichten. Die Zwerge warteten möglicherweise auf Verstärkung, denn sie waren mindestens ebenso feige wie gemein, aber sie waren jetzt schon mehr als genug um es mit ihnen aufnehmen zu können. Und ihre Chancen sie einzuholen, sanken mit jedem Schritt, den sie sich von ihnen entfernten. Hatten sie erst einmal die Geröllebene erreicht, so waren ihre Aussichten tatsächlich gar nicht so schlecht davonzukommen. Die Zwerge waren in großer Anzahl, aber auf ihren kurzen Beinen konnten sie nicht besonders schnell laufen. Trotzdem wuchs das Zwergenheer zwar immer weiter, rührte sich aber nicht von der Stelle. Unbehelligt erreichten sie die Ebene und stürmten weiter.