»Nein«, erwiderte sie. »Bloß jede Menge Geschenke.«
Die Falten erschienen. »Natürlich«, sagte er. »So, und da ich mich jetzt um all deine Vorschläge kümmern muss, habe ich noch viel zu tun. Geh zurück zu Teiti.«
Sie beugte sich vor, küsste ihn auf die Wange, rutschte von seinem Schoß und lief zu Teiti zurück. Ihre Tante lächelte, griff nach ihrer Hand und führte sie aus dem Raum.
In dem Strom draußen stand eine große Gruppe von Kaufleuten. Als sie vorbeiging, hörte sie die Männer miteinander tuscheln.
»… warte jetzt seit drei Tagen!«
»Es ist seit drei Generationen in meiner Familie. Sie können nicht…«
»… noch nie so riesige Seeglocken gesehen. So groß wie Fäuste!«
Seeglocken? Imi verlangsamte ihren Schritt und tat so, als wische sie sich etwas von den Kleidern.
»Aber die Landgeher haben sie entdeckt. Sie bewachen sie Tag und Nacht.«
»Könnten wir nicht vielleicht eine Ablenkung arrangieren? Dann könnten wir…«
An dieser Stelle wurde das Gespräch so leise, dass sie es nicht mehr verfolgen konnte, da sie sich von den Sprechern entfernte. Ihr Herz schlug sehr schnell. Seeglocken so groß wie Fäuste? Ihr Vater liebte Seeglocken. Ob sie vielleicht einen dieser Kaufleute bitten konnte, ihr eine solche Seeglocke zu beschaffen? Sie runzelte die Stirn. Es klang so, als planten sie einen einzigen großen Ausflug aus der Stadt, um eine Unmenge Glocken zu sammeln. Wenn sie das taten, würde man überall Glocken von der Größe von Fäusten kaufen können. Dann wären sie gewöhnlich und langweilig.
Es sei denn, ich könnte jemanden dazu bewegen, sich hinauszuschleichen und mir eine Glocke zu holen, bevor die Kaufleute dort hinkommen. Sie lächelte. Ja! Ich muss nur noch herausfinden, wo es diese Seeglocken zu finden gibt.
Was ihr ein Leichtes sein würde. Heute Nacht würde sie einen Ausflug in den Raum mit den Rohren machen. Auraya, kommst du?, fragte Juran.
Beim Klang der Stimme in ihren Gedanken zuckte Auraya zusammen. Sie ließ die Schriftrolle fallen, die sie gelesen hatte – einen faszinierenden Bericht über einen Seemann, den ein Mitglied des Meeresvolks vor dem Ertrinken gerettet hatte -, und sprang von ihrem Stuhl auf. Ihre plötzliche Bewegung erschreckte ihren Veez. Er quiekte, lief die Rückenlehne des Stuhls hinauf, auf dem er geschlafen hatte, und huschte über die Wand davon.
»Entschuldige, Unfug«, sagte sie, trat vor die Wand und streckte eine Hand nach dem Tier aus. »Ich wollte dich nicht erschrecken.«
Er starrte sie anklagend an, die Füße fest gegen die Wand gestemmt. »Owaya Angst machen. Owaya böse.«
»Es tut mir leid. Komm herunter, damit ich dich kraulen kann.«
Er blieb außerhalb ihrer Reichweite hocken, und seine Schnurrhaare zitterten jetzt, wie sie es immer taten, wenn er sich bemühte, seinem Namen Ehre zu machen.
Owaya jagen Unfug, sagte ein leises Stimmchen in ihre Gedanken hinein. Sie schüttelte den Kopf.
»Nein, Unfug. Ich…«
Auraya?, rief Juran.
Ja. Ich komme. Wo seid ihr?
Am Fuß des Turms.
Ich werde gleich dort sein.
Sie seufzte und ließ Unfug an der Wand hocken. Nachdem sie einen Kelch auf den Rand der Schriftrolle gestellt hatte, damit sie nicht vom Tisch geweht wurde, ging sie zum Fenster hinüber, entriegelte es und drückte es auf.
Als sie sich konzentrierte, wurde sie sich mit allen Sinnen der Welt um sich herum bewusst. Sie zog Magie in sich hinein und gab ihrem Körper den Befehl, seine Lage leicht zu verändern. Ein wenig höher, dann hinaus. Einen Augenblick später schwebte sie draußen vor dem Fenster, mit nichts als Luft unter ihren Füßen. Sie verlagerte ihre Position abermals, dann drehte sie sich um und schloss das Fenster.
Unter ihr lag der Tempelbezirk. Von oben betrachtet, sah es beinahe so aus, als stünde einer ihrer Füße auf dem runden Dach der Kuppel und der andere auf dem achteckigen Gebäude, das als die Fünf Häuser bekannt war und das den Priestern als Quartier diente. Abgesehen von dem Weißen Turm hinter ihr, bestand der Rest des Tempelbezirks aus sorgfältig gepflegten und in Kreismustern angeordneten Gärten, da der Kreis das Symbol der Götter war. Vor ihr und zu ihrer Rechten spiegelte sich der Himmel in einem der vielen Arme des Jarime, der sich behäbig meerwärts wälzte.
Sie ließ sich langsam hinabsinken. Wenn sie sich auf diese Weise bewegte, kam es ihr nicht so vor, als flöge sie überhaupt. Sie bezeichnete es nur deshalb als Fliegen, weil ihr kein anderes Wort einfiel, mit dem sie ihr Tun hätte beschreiben können.
Außerdem hatte sie ein neues Bewusstsein für die Welt und ihre Magie gewonnen. Während der letzten Augenblicke der Schlacht, als sie mehr Macht als je zuvor in sich hineingezogen hatte, hatte sie die Magie auf eine Art und Weise spüren können, wie ihr das zuvor noch nie möglich gewesen war. Wenn sie sich konzentrierte, konnte sie die Magie überall um sich herum wahrnehmen.
Sowohl Zirkler als auch Traumweber waren sich darin einig, dass die ganze Welt von Magie erfüllt war. Alle lebenden Wesen konnten diese Magie in gewisser Weise in sich hineinziehen und in die körperliche Welt aussenden. Die verschiedenen Möglichkeiten, diese Magie zu nutzen, wurden Gaben genannt und mussten erlernt werden, genauso wie jede körperliche Fähigkeit erlernt werden musste. Die meisten lebenden Wesen, die Menschen eingeschlossen, konnten nur wenig Magie in sich hineinziehen und verfügten daher über begrenzte Gaben. Einige jedoch waren stärker und talentierter. Wenn es sich um Menschen handelte, wurden sie als Zauberer bezeichnet.
Ich war schon eine ungewöhnlich mächtige Zauberin, noch bevor die Götter mir zusätzliche Macht verliehen haben, um mich zu einer Weißen zu machen, rief sie sich ins Gedächtnis und blickte auf den Ring an ihrem Finger hinab. Ich wüsste gern, welche Art von Leben ich in den Zeiten geführt hätte, bevor es zirklische Priester und Priesterinnen gab.
Sie dachte gern, dass sie ihre Gaben genutzt hätte, um Menschen zu helfen, dass sie nicht bestechlich und grausam geworden wäre, im Gegensatz zu so vielen mächtigen Zauberern der Vergangenheit. Zauberer wie die Wilden, die mächtig genug waren, um Unsterblichkeit zu erlangen, hatten eher die Neigung entwickelt, ihre Macht und ihre Position zu missbrauchen.
Vielleicht war es Menschen einfach nicht bestimmt, über so viel Macht zu gebieten. Vielleicht machte der Umstand, dass sie eine körperliche Gestalt besaßen, sie verletzlich. Die wahren Götter waren nicht verdorben. Sie besaßen keine körperliche Gestalt, sondern waren Wesen aus reiner Magie und existierten in der Magie, die allem innewohnte.
Plötzlich blieb Auraya stehen.
Ich kann diese Magie spüren. Bedeutet das, dass ich imstande sein werde, die Götter zu spüren?
Diese Möglichkeit war gleichzeitig erregend und beunruhigend. Sie senkte den Blick. Der Boden war nicht mehr allzu weit unter ihr. Sie ließ sich hinabsinken, bis sie sich beinahe auf der Höhe des Turmeingangs befand, dann drosselte sie ihr Tempo für eine sanfte Landung.
Als sie durch die Bogengänge blickte, entdeckte sie die anderen Weißen in der Halle. Mairae sah sie und lächelte. Sofort folgten auch die anderen Weißen Mairaes Blick. Jurans Miene wurde weicher, als er Auraya bemerkte. Er kam auf sie zu, und die anderen folgten ihm.
»Hast du einen kleinen frühmorgendlichen Ausflug um den Turm unternommen?«, fragte er und bedeutete ihr, dass sie auf dem Weg zur Kuppel neben ihm hergehen solle.
»Nein«, antwortete Auraya. »Ich muss gestehen, dass ich die Zeit vergessen habe.«
»Du hast sie vergessen?«, entfuhr es Mairae. »Dein einjähriges Jubiläum?«