»Nein, das nicht«, erwiderte Auraya kichernd. »Nur die Zeit. Danjin hat mir eine faszinierende Schriftrolle über die Elai gebracht.« Sie wandte sich zu Juran um. »Werde ich dorthin zurückkehren, um ihnen ein zweites Mal ein Bündnis mit uns anzubieten?«
Juran lächelte. »Das werden wir im Altar besprechen.«
Die Priester und Priesterinnen, die auf dem Gelände unterwegs waren, hielten inne, um sie zu beobachten. Auraya hatte sich an ihre Neugier und ihre Bewunderung gewöhnt. Sie hatte gelernt, diese Dinge als Teil ihrer Rolle zu akzeptieren, und sie brachten sie nicht länger in Verlegenheit.
Bedeutet das, dass ich eitel und verwöhnt bin?, überlegte sie. Dies ist keine leichte Aufgabe. Ich arbeite hart, und das nicht zu meinem eigenen Nutzen. Ich diene den Göttern genau wie die anderen Priester, aber ich besitze zufällig größere Gaben und verstehe mich gut auf das, was ich tue. Und ich bin immer noch in der Lage, Fehler zu machen. Leiards Gesicht blitzte in ihren Gedanken auf, und der gewohnte Stich des Schmerzes folgte. Sie drängte beide Regungen energisch beiseite.
Sie gingen unter einem der breiten Bogen der Kuppel hindurch und ließen das sanfte Morgenlicht hinter sich. Die Dunkelheit im Innern nahm langsam Gestalt an, während Aurayas Augen sich daran gewöhnten. In der Mitte des hohen Gebäudes stand auf einem Podest der Altar.
Die fünf dreieckigen Wände des Gebildes klappten wie die Blätter einer sich öffnenden Blüte herunter. Juran ging über eins der Dreiecke in die Mitte, wo ein Tisch und fünf Stühle auf sie warteten. Die anderen Weißen folgten. Während sie ihre Plätze einnahmen, schloss sich die metallene Blüte wieder.
Auraya betrachtete jeden einzelnen ihrer Gefährten. Juran holte tief Luft und bereitete sich darauf vor, die rituellen Worte zu sprechen. Dyara saß vollkommen gelassen da. Rian runzelte die Stirn; er hatte seit dem Krieg nicht mehr allzu glücklich gewirkt. Mairae hatte die Arme vor der Brust verschränkt und trommelte mit den Fingern einer Hand lautlos auf ihren Arm.
»Chaia, Huan, Lore, Yranna, Saru«, begann Juran. »Einmal mehr danken wir euch für den Frieden, den ihr Ithania geschenkt habt, und für die Gaben, die es uns ermöglicht haben, diesen Frieden zu bewahren. Wir danken euch für eure Weisheit und eure Leitung.«
»Wir danken euch«, murmelte Auraya zusammen mit den anderen. Dann konzentrierte sie sich auf die Magie um sich herum. Falls die Götter in der Nähe waren, so konnte sie sie nicht spüren.
»Heute liegt Aurayas Auserwählung genau ein Jahr zurück, und es ist ein weiteres Jahr, in dem wir Übrigen euch gedient haben. Wir wollen auf die Ereignisse dieses Jahres zurückblicken und erwägen, welche Maßnahmen in nächster Zeit zu treffen sind. Wenn unsere Pläne von euren abweichen, so bitte ich euch, uns eure Wünsche bekanntzumachen.«
»Leitet uns«, sagten die anderen leise.
Juran blickte kurz in die Runde. »Viele kleine, friedliche Bündnisse und ein großer Krieg«, fuhr er fort. »Das ist eine Möglichkeit, die Ereignisse des Jahres zusammenzufassen.« Auraya konnte ein schiefes Lächeln nicht unterdrücken. »Lasst uns zuerst auf die Länder zu sprechen kommen, die unserer Heimat am nächsten liegen.« Er wandte sich an Dyara. »Wie steht es in Genria und Toren?«
Sie zuckte die Achseln. »Eigentlich sehr gut. König Berro hat sich in letzter Zeit bemerkenswert anständig benommen. König Guire ist so vernünftig wie eh und je. Sie haben den Anteil des jeweils anderen im Krieg gewürdigt und einander für die Fähigkeiten ihrer Kämpfer gepriesen.« Sie verdrehte die Augen. »Ich rechne jederzeit damit, dass diese Art männlichen Imponiergehabes verebbt und sie wieder zu streiten beginnen.«
Juran kicherte und sah Auraya an. »Wie geht es den Siyee?«
Sie verzog das Gesicht. »Ich habe nichts mehr von ihnen gehört, seit sie das Schlachtfeld verlassen haben.« Sie hielt inne. »Es wäre so viel einfacher, mit ihnen in Verbindung zu treten, wenn wir dort Priester hätten. Ich habe ihnen versprochen, dass wir ihnen welche schicken würden, als Heiler und als Lehrer.«
Juran runzelte die Stirn. »Es ist eine schwierige Reise.«
»Ja«, pflichtete Auraya ihm bei. »Ich bin davon überzeugt, dass wir einige junge Priester finden werden, die die Strapazen auf sich zu nehmen bereit sind, um eine Gelegenheit zu bekommen, an einem Ort zu leben, den nur wenige Landgeher je zu Gesicht bekommen werden. Wir könnten außerdem den Entdecker, der unseren ersten Bündnisvorschlag nach Si gebracht hat, als Führer in Dienst nehmen.«
»Ja. Triff alle notwendigen Vorbereitungen dafür, Auraya. Und erkundige dich, ob es unter den Siyee welche gibt, die Interesse daran hätten, hierherzukommen, um der Priesterschaft beizutreten.« Als Nächstes wandte er sich an Rian. »Was ist mit den Dunwegern?«
»Die sind im Augenblick hochzufrieden«, antwortete er. »Nichts bereitet einer Kriegerkultur größere Freude als die Gelegenheit, an einer solch gewaltigen Schlacht teilzunehmen. Sie sind beinahe enttäuscht, dass der Krieg vorüber ist.«
Juran lächelte schief. »Was ist mit den Fallen im Pass?«
»Die Dunweger sind noch immer damit beschäftigt, sie zu entfernen.«
»Wie lange wird es noch dauern?«
»Einige Wochen.«
Mairae lächelte, als Juran den Blick auf sie richtete.
»Keine Klagen von den Somreyanern. Sie sind vor einer Woche aufgebrochen, wie du weißt, und sollten heute oder morgen Arbeem erreichen.«
Juran nickte. »Dann bleiben also nur noch die Sennoner.« Zu Aurayas Überraschung sah er Dyara an. Die Frau kümmerte sich bereits um die Belange zweier Länder, Toren und Genria. Gewiss würde sie nicht noch ein drittes Land übernehmen – erst recht nicht, nachdem dieses Land mit den Pentadrianern paktiert hatte und Verhandlungen schwierig und zeitaufwendig sein würden.
»Der Kaiser persönlich hat Botschaften geschickt, in denen er eine ›neue Ära der Freundschaft‹ vorschlägt«, sagte Dyara, und ihre missbilligende Miene ließ keinen Zweifel daran, was sie von diesem Ansinnen hielt. »Den Gerüchten zufolge hat er den Bündnisvertrag mit den Pentadrianern zerrissen.«
»Gut«, erwiderte Juran zufrieden. »Ermutige ihn, aber zeige dich nicht allzu eifrig.« Er sah Rian und Mairae an. »Da Somrey und Dunwegen euch keine allzu große Mühe machen, möchte ich, dass ihr euch zusammen mit Dyara um Sennon kümmert. Ich bezweifle, dass wir den Kaiser in allzu naher Zukunft zu einem Bündnis mit uns werden überreden können. Er weiß, dass er sein Land mit einer solchen Entscheidung zum ersten Angriffsziel der Pentadrianer machen würde, sollten sie uns abermals den Krieg erklären. Stellt fest, wie viel ihr von ihm bekommen könnt, solange er sich noch schuldig fühlt, weil er sich auf die gegnerische Seite geschlagen hat.«
Dyara, Rian und Mairae kümmern sich gemeinsam um Sennon, dachte Auraya. Was ist mit mir? Die Siyee bereiten uns keine Probleme… Aber natürlich. Es gibt noch ein anderes Land, mit dem wir uns gern verbünden würden.
Juran wandte sich zu ihr um. Sie lächelte.
»Die Elai?«
»Nein«, antwortete er. »Für dich habe ich eine andere Aufgabe, aber darüber werden wir später reden. Lasst uns jetzt über Belange sprechen, die uns über unsere Gestade hinausführen. Was sollen wir tun, um einen Angriff der Pentadrianer in der Zukunft zu verhindern?«
Die anderen tauschten Blicke.
»Was können wir tun?«, fragte Rian. »Wir haben ihnen gestattet, in ihre Heimat zurückzukehren, wo sie am stärksten sind.«
»Das haben wir allerdings getan«, erwiderte Juran. »Welche Möglichkeiten lässt uns das jetzt noch offen? Wir können untätig bleiben und hoffen, dass sie ihre Stärke nicht zurückgewinnen und uns abermals angreifen werden, oder wir können darauf hinarbeiten, einen solchen Angriff zu vermeiden.«
Dyara runzelte die Stirn. »Schlägst du ein Bündnis vor? Damit würden sich die Pentadrianer niemals einverstanden erklären. Sie betrachten uns als Heiden.«