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Der große Gebäudekomplex bedeckte den gesamten Hang eines Hügels am Rand der Stadt Glymma. Zuerst kam eine breite Treppe, die zu einer Fassade von Bogen führte, und durch diese Bogen gelangte man in eine riesige Halle. Hinter diesem Gebäude erhoben sich weitere, und ein jedes wirkte in der staubigen Luft ein wenig verschwommener. Es war schwer zu sagen, ob die Gebäude miteinander verbunden waren oder nicht. Von vorn betrachtet war das Sanktuarium ein unübersichtliches Durcheinander von Mauern, Fenstern, Balkonen und Türmen.

An der entferntesten Stelle brannte eine Flamme, die durch den Staub in der Luft gedämpft wirkte. Dies war die Flamme des Sanktuariums, entzündet von den Sterblichen, zu denen die Götter vor hundert Jahren zum ersten Mal gesprochen hatten. Seither brannte sie Tag und Nacht, geschürt von den ergebensten Götterdienern.

Wie kann ich mir anmaßen zu glauben, ich hätte einen Platz unter ihnen verdient?, fragte sie sich.

Weil Imenja es glaubt, gab sie sich selbst die Antwort. In der Nacht, nachdem die Armee die Minen verlassen hatte, hatte Imenja Reivan während einer Zusammenkunft der Stimmen und ihrer Ratgeber zu sich gerufen, um die vor ihnen liegende Reise zu besprechen. Reivan hatte darauf gewartet, dass Imenja ihr einen Auftrag gab oder ihr eine Frage stellte, aber keines von beidem geschah. Erst nach der Zusammenkunft, als sie schlaflos und verwirrt unter dem Nachthimmel gelegen hatte, war ihr klar geworden, dass Imenja sie lediglich hatte die Versammlung beobachten lassen wollen.

Während der restlichen Reise hatte Imenja dafür gesorgt, dass Reivan sich stets in ihrer Nähe aufhielt. Manchmal bat sie Reivan um ihre Meinung, dann wieder schien sie sich lediglich unterhalten zu wollen. Bei letzteren Gelegenheiten fiel es Reivan leicht zu vergessen, dass sie zu einer der Stimmen der Götter sprach. Als Imenja das Gehabe der strengen, mächtigen Anführerin abstreifte, offenbarte sie trockenen Humor und aufrichtiges Mitgefühl, beides Dinge, die Reivan sehr anziehend fand.

Ich mag sie, dachte Reivan. Sie respektiert mich. Ich habe seit Jahren mit der Verachtung der Denker leben müssen. Sie haben mir immer die langweiligsten und niedersten Arbeiten gegeben, weil sie befürchteten, eine Frau könnte sich ihnen als ebenbürtig erweisen. Vermutlich glauben sie, dass sie mich, wenn sie mich in Armut halten, dazu zwingen werden, jemanden zu heiraten und Kinder zu bekommen, damit ich ihnen nicht länger lästig sein kann. Grauer hat mich gewiss nur deshalb weggeschickt, um Karten von den Minen anzufertigen, weil er mich aus den Augen haben wollte.

Jetzt war der frühere Anführer der Denker tot. Hitte, sein Nachfolger, hatte kein einziges Wort mit ihr gewechselt, seit sie die Armee aus den Minen geführt hatte. Sie war sich nicht sicher, ob er sich darüber ärgerte, dass sie es war und nicht er, der den Weg ins Freie gefunden hatte, oder ob sich sein Verdruss darauf zurückführen ließ, dass er von Imenjas Versprechen, sie zu einer Götterdienerin zu machen, erfahren hatte.

Wahrscheinlich beides, dachte sie trocken. Meinetwegen kann er schmollen, so lange er mag. Und das Gleiche gilt für alle anderen. Wenn sie mich besser behandelt hätten – so, als sei ich es wert, dass man mir zuhört -, hätte ich ihnen von dem Windtunnel erzählt und nicht Imenja. Wir hätten die Armee als Gruppe aus den Minen geführt, und wir alle hätten uns die Rettung der Armee als Verdienst anrechnen können. Sie lächelte. Imenja hätte die Wahrheit ohnehin gesehen. Sie weiß, dass ich die Armee gerettet habe. Sie weiß, dass ich würdig bin, den Göttern zu dienen.

Reivan nahm ihre Tasche in die andere Hand und machte sich auf den Weg zum Sanktuarium. Sie ging die Treppe hinauf und blieb dann noch einmal stehen, um neben einem der Bogen Atem zu schöpfen. Die Promenade war für diese Tageszeit ungewöhnlich still.

Sie vermutete, dass die Bürger von Glymma zu Hause waren und um jene trauerten, die nicht zurückgekehrt waren. Vor ihrem inneren Auge sah sie noch einmal die Ankunft der Armee in der Stadt am vorigen Tag. Eine große Menschenmenge hatte sich versammelt, aber nur einige wenige gedämpfte Jubelrufe hatten sie begrüßt.

Die Armee war erheblich kleiner gewesen als die, die vor einigen Monaten in den Krieg gezogen war. Obwohl die Schlacht die meisten Opfer gekostet hatte, waren auch viele Sklaven, Soldaten und Götterdiener während der Durchquerung der sennonischen Wüste an Durst und Erschöpfung gestorben. Das Fehlen der Handelskarawanen, die zuvor Essen und Wasser feilgeboten hatten, war sehr auffällig gewesen. Die Führer, die der sennonische Botschafter ihnen für die erste Durchquerung der Wüste zur Verfügung gestellt hatte, waren nicht zurückgekehrt, und einzig die Karten der Denker, die sich glücklicherweise nicht unter denen befunden hatten, die mit Grauer verloren gegangen waren, hatten sie zum Wasser geführt.

Reivan hatte sich gefragt, ob die Menschen, die die Armee begrüßten, wütend auf die Götterstimmen sein würden, weil sie ihre Angehörigen in den Krieg geführt hatten. Andererseits mochte sich ihr Zorn auch gegen die Götter selbst richten, die die Niederlage zugelassen hatten. Doch jeder Zorn, den sie empfinden mochten, wurde durch den Anblick des Sargs gedämpft, den die vier Stimmen mit Hilfe von Magie zwischen sich trugen. Auch sie hatten einen Verlust erlitten.

Während Reivan sich jetzt umschaute, stellte sie sich vor, wie die Rückkehr der Armee von hier aus ausgesehen haben musste. Die Armee war in strenger Formation marschiert: der höchste Rang – die Ergebenen Diener der Götter – vorn, gewöhnliche Götterdiener dahinter und dann die zu Einheiten aufgestellten Soldaten. Die Sklaven waren an einer Seite gegangen, und die Denker hatten am Fuß der Treppen gestanden. Die Stimmen hatten etwa von der Stelle aus, an der sie jetzt stand, das Wort an die Menge gerichtet.

Imenjas Ansprache war ihr im Gedächtnis haften geblieben.

»Volk von Glymma, ich danke euch für euer warmes Willkommen. Wir sind weit gereist und haben im Dienst der Götter eine große Schlacht ausgefochten. Unsere Verluste sind auch die euren, ebenso wie unsere Siege. Denn obwohl wir diese Schlacht nicht gewonnen haben, haben wir sie doch nur überaus knapp verloren. So ebenbürtig waren die Armeen der Pentadrianer und der Zirkler einander, dass einzig der Zufall über den Sieg entschieden hat. Diesmal hat der Wind den Zirklern das Glück zugeweht. Beim nächsten Mal könnte er es ebenso gut in unsere Richtung tragen.« Sie hatte die Arme gehoben und die Hände zu Fäusten geballt. »Wir wissen, dass wir ebenso mächtig sind wie sie. Und schon bald werden wir mächtiger sein als sie!«

Die Menge, die ihre Rolle kannte, hatte gejubelt, aber dem Jubel hatte die Begeisterung gefehlt.

»Wir haben die Namen von Sheyr, Hrun, Alor, Ranah und Sraal in die ganze Welt getragen! Die Namen der wahren Götter. Die Feinde der Zirkler werden hierherkommen. Zu uns. Sie werden nach Glymma kommen. Wohin werden sie kommen?«

»Nach Glymma!«, schrien die Bürger halbherzig.

»Jene, die den wahren Göttern folgen wollen, werden hierherkommen. Wohin werden sie kommen?«

»Nach Glymma!« Die Stimmen waren jetzt lauter.

»Wohin werden sie kommen?«

»Nach Glymma!« Endlich lag ein wenig Nachdruck in der Erwiderung.

Imenja hatte die Arme sinken lassen. »Wir haben viel verloren. Wir haben Väter und Söhne verloren. Wir haben Ehemänner und Ehefrauen verloren. Wir haben Mütter und Töchter verloren, Schwestern und Brüder, Freunde und Gefährten, Lehrer und Anführer. Wir haben unseren Anführer verloren, die Erste Stimme der Götter, Kuar.« Sie neigte den Kopf. »Kuars Stimme ist verstummt. Lasst uns jetzt schweigen, um all jenen unseren Respekt zu zollen, die für die Götter gestorben sind.«

Reivan hatte einen Kloß in der Kehle gehabt. Imenjas Gesicht war von Trauer gezeichnet gewesen, und Reivan hatte gewusst, dass diese Trauer echt war. Sie hatte sie während des vergangenen Monats viele Male in Imenjas Augen gesehen und in ihrer Stimme gehört.