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Das Schweigen hatte sich unerträglich in die Länge gezogen. Dann hatte Imenja zu guter Letzt den Kopf gehoben und der Menge gedankt. Sie hatte den Menschen mitgeteilt, dass nach einem Trauermonat eine neue Erste Stimme gewählt werden würde. Die Stimmen und die Götterdiener waren in den Tempel gegangen, die Soldaten waren aufgebrochen, und die Menge hatte sich zerstreut. Reivan war in das kleine Zimmer am Stadtrand zurückgekehrt, das sie gemietet hatte. Imenja hatte ihr einen Tag freigegeben, um ihre Angelegenheiten zu regeln, bevor sie in das Sanktuarium kommen sollte, um ihre Ausbildung als Götterdienerin zu beginnen.

Und jetzt bin ich hier, dachte sie, als sie sich umdrehte, um durch einen der Bogengänge zu treten.

Auch in der großen Halle herrschte ungewöhnliche Stille. Nur wenige Götterdiener waren zugegen; sie standen in kleinen Gruppen von drei oder vier Personen beieinander. Die schwarzgewandeten Rücken schienen jede Störung zu verbieten. Sie blieb stehen und wartete. Eigentlich sollten Götterdiener alle Besucher bei ihrer Ankunft begrüßen, ob sie nun aus den höchsten oder den niedersten Schichten der Gesellschaft stammten.

Keiner der Götterdiener trat an sie heran, obwohl sie aus den Augenwinkeln sah, dass ein oder zwei von ihnen sie beobachteten, wann immer sie nicht in ihre Richtung schaute. Während die Zeit verstrich, verlor sie nach und nach alles Selbstvertrauen. Bin ich zur falschen Zeit gekommen? Imenja hat gesagt, ich solle mich heute hier einfinden. Sollte ich auf die Götterdiener zugehen? Wäre das ein Verstoß gegen das Protokoll oder etwas in der Art?

Zu guter Letzt löste sich einer der Männer von seinen Gefährten und kam auf sie zugeschlendert.

»In Zeiten der Trauer kommen Besucher nicht hierher«, beschied er ihr. »Es sei denn, die Angelegenheit wäre drängend und wichtig. Gibt es etwas, das du von uns brauchst?«

»Ah.« Sie brachte ein entschuldigendes Lächeln zustande. »Das wusste ich nicht. Aber wie dem auch sei, die Zweite Stimme hat mir aufgetragen, mich heute Morgen hier einzufinden.«

»Zu welchem Zweck?«

»Um meine Ausbildung als Götterdienerin zu beginnen.«

Er zog die Augenbrauen hoch. »Ich verstehe.« Er zeigte auf die andere Seite der Halle, wo parallel zum Eingang eine weitere Reihe von Bogengängen verlief. »Du musst den Hof überqueren und durch den Flur gehen. Die Novizenquartiere der Götterdiener liegen auf der rechten Seite.«

Sie bedankte sich bei ihm, dann verließ sie die Halle. Der Innenhof war groß und wurde von einem sternförmigen Springbrunnen in der Mitte beherrscht. Sie ging darum herum zu einem breiten Eingang auf der gegenüberliegenden Seite. Der Flur dahinter führte aufwärts, und an einigen Stellen waren ein oder zwei Treppenstufen eingelassen, die den Anstieg erleichterten. Immer wieder kamen ihr Götterdiener entgegen. Sie war erst wenige Schritte gegangen, als eine Frau in mittleren Jahren sie mit argwöhnischer Miene aufhielt.

»Wohin willst du?«, fragte sie streng.

»Ins Novizenquartier der Götterdiener. Ich bin hier, um meine Ausbildung zu beginnen.«

Die Frau zog die Augenbrauen in die Höhe. »Name?«

»Reivan Riedschneider.«

Irgendwie brachte sie es fertig, ihre Augenbrauen noch höher zu ziehen. »Aha. Folge mir.«

Die Götterdienerin führte sie zu einer Tür auf der linken Seite des Flurs. Reivan zögerte kurz, dann zuckte sie die Achseln und folgte der Frau. Sie schritten durch einen langen, schmalen Gang, vorbei an vielen Türen. Schließlich blieb die Frau vor einer Tür stehen und klopfte an.

Die Tür wurde geöffnet. In dem Raum saß hinter einem Schreibtisch eine Ergebene Götterdienerin. Die Frau blickte auf, und als sie Reivan sah, runzelte sie die Stirn. Eine Hand legte sich auf Reivans Schulter und schob sie hinein.

»Reivan Riedschneider.« Die Stimme ihrer Führerin troff vor Missbilligung. »Sie ist hier, um den Göttern zu dienen.«

Als Reivan noch einmal kurz über ihre Schulter blickte, stellte sie fest, dass in den Zügen der Götterdienerin tiefe Abneigung lag, dann wurde die Tür auch schon geschlossen. Sie wandte sich wieder der Ergebenen zu und fing Unwillen von ihr auf, der jedoch schnell unterdrückt wurde.

»Du bist also gekommen«, sagte die Frau. »Was bringt dich auf die Idee, du könntest eine Götterdienerin werden, obwohl du keine übernatürlichen Fähigkeiten besitzt?«

Reivan blinzelte überrascht. Sehr direkt, dachte sie. Ich schätze, die Antwort »Weil Imenja gesagt hat, ich könnte es« wird diese Frau wohl kaum überzeugen.

»Ich hoffe, dass ich den Göttern auf andere Art und Weise dienen kann«, erwiderte sie.

Die Frau nickte langsam. »Dann musst du beweisen, dass das möglich ist. Ich bin die Ergebene Götterdienerin Drevva, die Ausbildungsmeisterin.« Sie erhob sich und kam um den Schreibtisch herum. »Du wirst die gleiche Ausbildung durchlaufen und dich den gleichen Prüfungen unterziehen, die von allen anderen hoffnungsvollen Anfängern bestanden werden müssen. Außerdem wirst du in den gleichen Quartieren leben. Und nun komm mit mir.«

Sie führte Reivan aus dem Raum und weiter den Flur hinunter. Nachdem sie einige Male von dem Hauptgang abgezweigt waren, wurden die Flure noch schmaler. Schließlich blieb Drevva vor einer Tür stehen und öffnete sie.

Als Reivan hineinspähte, verließ sie beinahe aller Mut. Der Raum war kaum größer als das Bett, das er enthielt. Es roch nach Staub und Fäulnis. Auf dem Boden lagen in dicken Schichten Sand und Staub.

»Du erlaubst deinen Dienernovizen, unter solchen Bedingungen zu leben?«, fragte sie spontan. »Die Götterdiener, die mich großgezogen haben, hätten mir für solche Nachlässigkeit die Peitsche zu schmecken gegeben.«

»Wenn das Zimmer dir nicht gefällt, such dir einen Domestiken, der es putzt«, entgegnete Drevva. Sie machte auf dem Absatz kehrt und ging davon, blieb dann jedoch noch einmal stehen und drehte sich um. »Komm morgen beim Läuten der Frühglocke zu mir, dann werde ich alles Notwendige in die Wege leiten, damit ein Götterdiener dich den ersten Prüfungen unterziehen kann.« Sie senkte den Blick auf Reivans Tasche. »Was ist das?«

»Meine Sachen.«

»Nämlich?«

Reivan zuckte die Achseln. »Kleider, Musikinstrumente, Bücher…« Sie dachte an die Bücher, die sie am vergangenen Tag verkauft hatte, und ein Stich des Bedauerns durchzuckte sie. Sie hatte bezweifelt, dass man es im Sanktuarium gern sehen würde, wenn sie eine kleine Bibliothek mitbrachte.

Drevva kam zurück und nahm Reivan die Tasche ab. »Götterdiener behalten keine persönlichen Besitztümer. Du wirst hier im Sanktuarium alles bekommen, was du benötigst. Kleider werden dir zur Verfügung gestellt werden, und wenn es dir gelingt, als Dienernovizin aufgenommen zu werden, wirst du nicht mehr benötigen als die Roben.«

»Aber…«

Die Frau brachte sie mit einem einzigen Blick zum Schweigen. »Aber was?«

»Aber was ist, wenn ich die Prüfungen nicht bestehe?«, fragte Reivan.

Ein schwaches Lächeln umspielte die Lippen der Frau. »Ich werde deine Tasche in meinem Zimmer aufbewahren. Wenn du fortgehst, wirst du sie zurückbekommen.«

Wenn du fortgehst. Reivan sah der Frau nach, dann seufzte sie und machte sich auf die Suche nach einem Domestiken. Ihre Suche führte sie weit fort von ihrem Zimmer, und erst als sie endlich einen Domestiken fand, der einen Flur fegte, wurde ihr klar, dass sie die Quartiere der Götterdiener erreicht hatte.

»Ich brauche jemanden, der mein Zimmer putzt«, erklärte sie dem Mann.

Er sah sie mürrisch an. »Alle Domestiken sind damit beschäftigt, die Zimmer der toten Götterdiener auszuräumen«, erwiderte er und kehrte ihr dann den Rücken zu.

Sie hätte das Zimmer selbst sauber gemacht, aber aus Drevvas Reaktion ließ sich klar entnehmen, dass Götterdiener solche Arbeiten als unter ihrer Würde erachteten. Wenn sie sich als unbefähigter Neuankömmling wie ein Domestik benahm, würde sie auch wie ein solcher behandelt werden, vermutete Reivan.