Es war eine große Versuchung. Vielleicht würde sie den Siyee helfen können, wenn sie, sobald sie die ersten Anzeichen der Krankheit zeigten, zu ihr fliegen würden. Sie könnte im Dorf des Sandstamms ein Haus einrichten, in dem sie Kranke heilte. Vielleicht würden einige Siyee in der Lage sein, Mirars heilende Gabe zu erlernen.
Dann sanken ihre Schultern plötzlich ein wenig herab. Sie war sich nicht sicher, ob sie Mirars Gabe noch immer besitzen würde, wenn sie den Ring der Götter ablegte. Sie war sich nicht einmal sicher, dass sie ihn ablegen konnte, ohne dass etwas Schreckliches geschah.
Vielleicht sollte ich Chaia fragen, sagte eine dunkle, leise Stimme tief in ihren Gedanken. Sie schüttelte den Kopf, stand auf und ging zum Tisch hinüber. Es ist absurd, ging es ihr durch den Kopf. Ich werde weder den Ring ablegen, noch mich von den Göttern abwenden. Ich muss ihr Urteil akzeptieren. Ich werde das Beste daraus machen.
In Jarime konnte sie Mirars Gabe an andere weitergeben. Es mussten sich doch Heilerpriester finden lassen, die dazu in der Lage waren. Vielleicht konnten die Siyee, die dem Tempel beitraten, diese Fähigkeit in ihre Heimat zurückbringen. Es würde zwar zu spät sein, um die meisten Siyee vor der Herzzehre zu retten, aber vielleicht würde es ein wenig dazu beitragen, dass sie ihr verziehen, dass sie sie im Stich gelassen hatte.
Was sie, wie sie hoffte, tun würden. Es würde ihr das Herz brechen, wenn sie in zehn Jahren würde feststellen müssen, dass sie in Si nicht länger willkommen war.
Jemand schrie. Nein – es waren viele Menschen, die schrien. Ihr Wehklagen klang auf eine beinahe komische Weise melodramatisch. Mirar versuchte, beunruhigt zu sein, machte sich aber nur Sorgen, dass er keine Beunruhigung verspüren konnte.
Mirar?
Emerahl? Machst du diesen Lärm? Das ist sehr irritierend.
Welchen Lärm meinst du?
Diesen Lärm.
Oh. Das. Du träumst.
Er hielt inne, um nachzudenken.
Wenn ich das tue, träume ich dich dann auch?
Nein. Ich versuche, mich mit dir zu vernetzen. Sieh zu, dass du dich unter Kontrolle bekommst, Traumweber.
Kontrolle. Natürlich. Er konzentrierte seine Willenskraft auf den Traum, und sofort klangen die Schreie gedämpfter. Allerdings hätten sie eigentlich ganz verstummen müssen. Dann fiel es ihm wieder ein.
Es ist der Schneesturm, erklärte er Emerahl. Der Lärm des Windes muss so laut sein, dass mein Geist nicht umhin kann, ihn wahrzunehmen, selbst im Traum.
Wie schön für dich.
Ja. Wie geht es dir?
Ich habe die Roten Höhlen erreicht. Ich hoffe, es macht dir nichts aus, aber ich habe meinen Gastgebern alles über dich erzählt. Sie sind sehr beeindruckt davon, dass es dir ein Jahrhundert lang gelungen ist, deine Identität zu ändern.
Ein Stich der Furcht durchzuckte Mirar. Das hatte sie ihnen erzählt? Was hatte sie sonst noch verraten?
Ob es mir etwas ausmacht?, erwiderte er. Nun, das kommt darauf an, wer deine Gastgeber sind.
Die Zwillinge.
Die Überraschung riss ihn um ein Haar aus dem Traumzustand heraus.
Ist das wahr?
Ja. Bist du ihnen jemals begegnet?
Einmal, vor langer Zeit. Etwa fünfzig Jahre bevor Juran auserwählt wurde, haben die beiden mich gewarnt, dass den Traumwebern während des nächsten Jahrhunderts schlimme Zeiten bevorstünden. Ich habe ihnen nicht geglaubt.
Sie sagen, sie könnten Regelmäßigkeiten im Gang der Welt erkennen. Sie schöpfen ständig die Gedanken Sterblicher ab und beobachten die Ausbreitung von Ideen. Sie meinen, das menschliche Verhalten sei die meiste Zeit ziemlich leicht vorauszusagen.
Nun, sie schöpfen auch schon sehr lange Gedanken ab, rief er ihr ins Gedächtnis. Ich habe schon wenige hundert Jahre, nachdem ich unsterblich geworden war, Gerüchte über ihre Existenz gehört.
Oh, sie sind erheblich älter, entgegnete sie. Sie haben viele, viele Jahrhunderte lang Sterbliche beobachtet, bevor sie gelernt haben, die Muster in ihrem Verhalten zu erkennen, und für ihre Voraussagen berühmt wurden.
Was sehen sie denn für die nächste Zukunft voraus?, fragte er.
Da sind sie sich nicht einig. Surim glaubt, es stehe eine große Veränderung bevor. Tamun hält das nicht für wahrscheinlich, so kurz nach dem Aufkommen der Zirkler und der Pentadrianer. Und auch das ist interessant. Sie sagen, die beiden Religionen seien gleichzeitig entstanden und gewachsen. Surim denkt, es stecke nicht mehr dahinter als mächtige Glaubensvorstellungen, die aufgekommen sind, um die Leere zu füllen, die nach dem Sterben so vieler Götter in der Welt entstanden ist. Tamun vermutet, dass mehr dahintersteckt – dass die Religionen miteinander verbunden sind.
Wissen die beiden, ob die pentadrianischen Götter real sind?
Sie sind real. Es gibt zu viele pentadrianische Gläubige, die sich an Begegnungen mit ihren Göttern erinnern können, als dass diese nicht real sein könnten. Niemand weiß jedoch, woher diese Götter gekommen sind. Sie unterscheiden sich insofern von den zirklischen Göttern, als dass sie selten vor Sterblichen erscheinen. Sie mischen sich nicht gern allzu sehr in die Angelegenheiten ihrer Anhänger ein.
Außer um ihnen zu befehlen, Nordithania zu überfallen?
Die Zwillinge glauben, das sei die Entscheidung des früheren Anführers gewesen, Kuar.
Interessant. Mir gefällt die Vorstellung von Göttern, die sich nicht einmischen, aber wenn das Ergebnis so aussieht, dass Sterbliche dergleichen Entscheidungen treffen…
Erzähl mir nicht, du hättest deine Meinung geändert und dächtest, wir seien mit Göttern besser dran als ohne.
Nein. Niemals. Aber auch Sterbliche können erstaunlich dumme und grausame Entscheidungen treffen.
Selbst deine eigenen Anhänger?, fragte sie.
Natürlich nicht. Traumweber sind ohne Fehl vernünftig.
Ha!
Nun ja, die meisten.
Hast du dich mit der Traumweberältesten Arleej in Verbindung gesetzt?
Ja, sagte er. Sie trifft die Vorkehrungen, die du vorgeschlagen hast.
Wie hat sie die Neuigkeiten, was dich betrifft, aufgenommen?
Sie war überrascht.
Ich bin davon überzeugt, dass sie mehr war als nur überrascht. Die Zwillinge haben mir etwas erzählt, das du interessant und in der Zukunft vielleicht sogar nützlich finden wirst. Es gibt noch mehr Leere Räume auf der Welt, die frei sind von jeder Magie. Die meisten sind für niemanden von Nutzen, aber es gibt einige an entlegenen Stellen, die sich für dich vielleicht gut als Versteck eignen würden.
Wissen die beiden, wie diese Leeren Räume entstanden sind?
Nein. Nur dass ein großes magisches Ereignis stattgefunden haben muss, um an einer bestimmten Stelle auf der Welt so viel Magie abzuziehen. Vor dem Krieg der Götter hatten sie noch nie etwas von diesem Phänomen gehört.