Er sprach langsam und bedächtig und hatte die Nachricht des Königs offenkundig auswendig gelernt. Als Reivan klar wurde, dass dies ein Vorschlag für ein Bündnis war, musste sie ein triumphierendes Lächeln unterdrücken.
»Der König schlägt vor, dass sein Volk und eures in Zukunft miteinander Handel treiben, aber nicht auf den Inseln von Borra. Inseln, die einige Tagesreisen von Borra entfernt liegen, könnten dafür in Frage kommen, sofern sie nicht von Plünderern besetzt sind. Als Gegenleistung für eure Hilfe bei der Verteidigung der Elai wird König Ais die Pentadrianer seinerseits bei dem Kampf gegen die Seeräuber unterstützen, aber nur, wenn das Risiko für seine Krieger nicht zu groß ist. Alle Wertgegenstände, die von Plündererschiffen geborgen werden, würden das Eigentum des Königs sein. Auch die Ausbildung der Elai im Kampf, in der Magie oder in der Errichtung von Verteidigungsanlagen würde fern von Borra stattfinden.«
Imenja nickte. »Liege ich richtig mit der Annahme, dass auch die Unterzeichnung eines Bündnisvertrages auf einer dieser entlegenen Inseln stattfinden würde?«
Der Bote nickte. Imenja wandte den Blick ab, als dächte sie nach.
Was sagst du dazu, Reivan?
Ich denke, dies ist das einzige Angebot, das wir bekommen werden. Es wird keine Diskussion über diese Bedingungen geben. Sollten wir einen Versuch in dieser Richtung unternehmen, werden wir nicht wieder von ihm hören.
Und was ist mit den Bedingungen?
Der einzige Teil, der unvernünftig klingt, ist der, dass ihnen die gesamte Beute zusteht. Sie würden bald darauf kommen, dass sie mehr Beute machen können, indem sie abwarten, bis ein Handelsschiff angegriffen wurde.
Imenja wandte sich wieder dem Boten zu. »Ich stimme im Namen meines Volkes diesen Bedingungen zu. Wenn du mir die Lage der Inseln beschreibst, von denen du gesprochen hast, werden wir morgen dorthin segeln.«
Der Bote wirkte überrascht, aber durchaus erfreut. Er beschrieb ihr den Weg, verneigte sich respektvoll, verabschiedete sich und trat an den Rand des Schiffes. Im Gegensatz zu den jüngeren Kriegern, die ins Wasser gesprungen waren, kletterte er vorsichtig hinunter und glitt fast ohne einen Spritzer in die See.
Imenja winkte Reivan zu sich heran. »Du befürchtest immer noch, dass sie eines Tages die Plünderer als die größte Gefahr für Handelsschiffe in diesen Gewässern ersetzen werden«, sagte sie leise. »Zerbrich dir deswegen nicht den Kopf. Ich werde dafür sorgen, dass sie sich ein solches Tun gründlich überlegen.«
Etwas Warmes schmiegte sich zwischen Aurayas Schultern. Nach langen Stunden des Fliegens hatte Unfug angefangen, sich zu langweilen, doch er verstand – vielleicht instinktiv -, dass er den Schutz ihres Bündels nicht verlassen durfte. Stattdessen tat er etwas, worum sie ihn beneidete: Er schlief.
Die nächtliche Landschaft unter ihr zierte sich, Einzelheiten preiszugeben. Verschiedene Schattierungen von Dunkelheit kennzeichneten verschiedene Gebiete: Wälder waren dunkler als Felder, und Wasser war noch schwärzer. Von Zeit zu Zeit fand der Mond eine Lücke in den Wolken, und Auraya konnte Straßen und Häuser ausmachen.
Jetzt bemerkte sie etwas Ungewöhnliches am Boden. Eine Störung im natürlichen Muster, dort, wo Land und Wasser aufeinandertrafen. Als der Mond die Welt abermals in Licht tauchte, wurden harte Kanten und ein Durcheinander sich schneidender Linien sichtbar. Zwei Gebäude fingen das Licht auf und schienen es zurückzuwerfen. Die Kuppel leuchtete wie ein zweiter Mond, halb vergraben im Boden. Der Weiße Turm reckte sich wie ein anklagender Finger gen Himmel.
Als Auraya sich dem Turm zuwandte, dachte sie einmal mehr über den Empfang nach, der ihr dort vielleicht zuteilwerden würde. Würden alle vier Weißen sie dort treffen? Würden sie mitfühlend oder wütend sein? Würden sie von ihr erwarten, dass sie sich entschuldigte oder Erklärungen abgab? Während sie sich langsam hinabsinken ließ, machte sie sich auf eine Begegnung gefasst, die wahrscheinlich peinlich, wenn nicht sogar unerfreulich sein würde.
Als ihre Füße das Dach berührten, wurde ihre Umgebung mit einem Mal dunkler. Als sie aufblickte, sah sie, dass die Wolken sich wieder vor den Mond geschoben hatten. Niemand kam herbei, um sie zu begrüßen. Sie wartete mehrere Herzschläge lang ab, dann lachte sie leise.
Ich habe angenommen, die Götter würden Juran wissen lassen, dass ich komme. Aber anscheinend haben sie es nicht getan. Sie ging zur Tür hinüber und war selbst erheitert über sich, dass sie tatsächlich eine schwache Enttäuschung empfand. Vielleicht warten sie ja im Innern des Gebäudes auf mich oder in meinem Zimmer.
Sie trat durch die Tür des Daches und zog sie leise hinter sich zu. Auf dem Weg die Treppe hinunter begegnete sie niemandem – nicht einmal einem Diener. Als sie die Tür zu ihrem Quartier erreichte, hielt sie inne, um zu lauschen, doch sie konnte nichts hören. Schließlich öffnete sie die Tür. Ihre Räume waren düster und leer.
Sie legte ihr Bündel beiseite und schuf einen Lichtfunken. Ein schläfriger Unfug kam herausgekrochen. Er blinzelte sie an, dann sprang er auf einen Stuhl und rollte sich zusammen. Sie tätschelte ihn und sah sich um.
Alles war noch genauso, wie sie es zurückgelassen hatte, doch es fühlte sich nicht mehr so an wie früher. Die vertraute Umgebung erfüllte sie nicht mit Freude. Während sie von einem Raum zum nächsten ging, fragte sie sich, ob ihre mangelnde Erleichterung über ihre Heimkehr daran lag, dass dies für das nächste Jahrzehnt so etwas wie ein Gefängnis sein würde.
Sie setzte sich auf die Kante ihres Bettes und drehte den Ring an ihrem Finger.
Während ihres langes Fluges, einer Zeit, da nichts sie abgelenkt hatte, hatte sie viel Zeit mit Nachdenken verbracht. Zuerst hatte sie sich klargemacht, dass es keinen Sinn hatte, sich wegen ihrer Zukunft zu grämen. Es war alles geregelt, und sie konnte nichts tun, um etwas daran zu ändern. Aber etwas nagte an ihr, und schließlich hatte sie sich eingestanden, dass sie tatsächlich Alternativen hatte, auch wenn diese töricht oder lächerlich waren. Sie begann sie zu beleuchten und die Konsequenzen abzuwägen, um sich davon zu überzeugen, dass diese Möglichkeiten für sie nicht in Frage kamen.
Als sie Jarime erreicht hatte, war sie zu der Erkenntnis gelangt, dass einige dieser Alternativen nicht gar so töricht waren, wie sie zuerst gedacht hatte. Dass sie, wenn sie sich für diese Möglichkeiten entschied, glücklicher oder zumindest für die Welt nützlicher sein würde.
Gleichzeitig machten diese Möglichkeiten ihr Angst. Sie hatte den Vorsatz gefasst zu schlafen, bevor sie irgendeine Entscheidung traf. Und es gab noch etwas, das sie wissen musste.
Sie legte sich auf ihr Bett und ließ sich langsam in Richtung Schlaf sinken. Als sie glaubte, der richtige Zeitpunkt sei gekommen, sprach sie einen Namen.
Mirar!
Es folgte ein langes Schweigen, dann antwortete eine vertraute Gedankenstimme.
Auraya? Bist du das wirklich?
Ja. Ich habe eine Frage an dich.
Ja?
Werde ich in der Lage sein, deine heilende Gabe auch andere zu lehren?
Nur unter seltenen Umständen.
Welchen Umständen?
Er antwortete nicht.
Mirar?
Haben die Götter schon über eine Strafe für dich entschieden?, fragte er.
Ja.
Wie lautet ihr Urteil?
Sie zögerte. Wenn er auch nur die mindeste Absicht hatte, Ärger zu machen, würde das Wissen, dass sie Jarime nicht mehr verlassen durfte, ihn vielleicht dazu ermutigen.
Das geht dich nichts an, erwiderte sie.
Ach nein? Betrachte es als einen Austausch von Informationen. Ich werde dir die Umstände erklären, die das Unterrichten des magischen Heilens begrenzen. Im Gegenzug sagst du mir, welche Strafe die Götter über dich verhängt haben.