Surim zog aufmüpfig die Augenbrauen hoch. »Nein, sie sollte mit besonderer Großzügigkeit behandelt werden. Und nur das Beste sollte gut genug für sie sein. Zum Beispiel seltene Leckerbissen wie geröstete Takker.«
»Ich werde sie probieren«, sagte Emerahl hastig und hoffte, auf diese Weise einem weiteren endlosen Streit zuvorzukommen. Es war nicht so, als wäre das Geplänkel der beiden in irgendeiner Weise verletzend, aber es konnte sich stundenlang hinziehen – und oft tat es das auch. »Und wenn das Takker-Fleisch mir nicht schmeckt, werde ich stattdessen mit Freuden das Gemüse essen.«
Surim lächelte breit. »Danke, Emerahl. Aber vielleicht möchtest du ja lieber hiervon kosten…«
Er holte aus dem Beutel eine Spinne, die mindestens doppelt so groß war wie seine Hand.
»Du machst dich über mich lustig«, sagte Emerahl.
»Das tut er tatsächlich«, brummte Tamun. »Hör auf damit, Surim.«
Er verzog das Gesicht. »Aber es macht so viel Spaß. Ich habe schon so lange niemanden mehr zum Spielen gehabt. Es ist nicht leicht, jemanden zu überlisten, der so alt ist wie du.«
Emerahl sah Tamun an. »Musst du das schon lange ertragen?«
»Seit fast zwei Jahrtausenden«, erwiderte sie gelassen. »Man sollte meinen, dass er nach all dieser Zeit begriffen hätte, dass seine Streiche nicht komisch sind. Es ist so, als würde man immer wieder und wieder denselben Witz erzählt bekommen. Manche würden es Folter nennen.«
»Nur weil ich alt bin, heißt das noch lange nicht, dass ich meinen Sinn für Humor verloren hätte«, entgegnete er. »Im Gegensatz zu manch anderen Leuten.«
»Ich amüsiere mich jeden Tag über dich«, sagte sie trocken.
Emerahl schüttelte den Kopf. »Ihr zwei hört niemals auf, wie?«
Surim grinste. »Keinen Augenblick lang. Nicht einmal nachdem wir uns voneinander getrennt hatten.«
Die Zwillinge hielten inne, um einander anzusehen, und in ihren Zügen lag ungeteilte Zuneigung. Emerahl blickte von einem zum anderen. Eine bestimmte Frage drängte sich ihr auf …
»Vor einem Jahrhundert«, sagte Tamun plötzlich, nachdem sie sich zu Emerahl umgewandt hatte. Ihre Miene war ernst. »Um der Entschlossenheit der Götter zu entgehen, die Welt von Unsterblichen zu befreien.«
Emerahl starrte sie entsetzt an. »Hast du soeben…?«
»Deine Gedanken gelesen? Nein.« Tamun zuckte die Achseln und wandte sich wieder ihrer Webarbeit zu. »Aber wir kennen diesen Gesichtsausdruck sehr gut.« Sie lächelte. »Keine Bange. Deine Neugier kränkt uns nicht. Frag nur.«
Emerahl nickte. »Wie konnte die Trennung euch retten?«
»Die Götter können, wie du inzwischen vielleicht bereits weißt, nicht ohne weiteres Einfluss auf die dingliche Welt nehmen«, erklärte Surim. Er hatte die Schlange inzwischen zu einem Tisch geschleift und nahm sie aus. »Sie müssen es durch einen Sterblichen tun, vorzugsweise jemanden, der über magische Gaben verfügt.«
»Also brauchen sie Priester und Priesterinnen, um ihre Vorhaben in die Tat umzusetzen«, fuhr Tamun fort. »Nachdem Juran Mirar getötet hatte, hat er sich auf die Suche nach uns Übrigen gemacht. Die Seherin war leicht zu finden…«
»Ich wette, das hat sie nicht vorhergesehen«, murmelte Surim.
»… und der Bauer ist überrascht worden. Wir haben zu spät von den Befehlen der Götter erfahren, um ihn zu warnen. Der einzige Unsterbliche, den wir warnen konnten, war die Möwe.«
»Er ist älter als wir alle«, sagte Surim und hielt in seiner Arbeit inne, um Emerahl in die Augen zu sehen. In seinen Zügen lag aufrichtiger Respekt.
»Ihn hat die Gewohnheit gerettet, ständig umherzuschweifen, seine Identität zu verbergen und sich den Anschein zu geben, nicht mehr zu sein als ein magerer Schiffsjunge.«
»Und die Menschen des Meeres schützen die ihren«, fügte Tamun hinzu.
»Wir dagegen waren beide wohlbekannt und besonders leicht zu erkennen. Natürlich haben wir versucht, uns zu verstecken – und für eine Weile ist uns das auch gelungen. Dann erklärten die Götter, dass Menschen wie wir ›Verirrungen der Natur‹ seien und bei der Geburt getrennt oder getötet werden müssten. Alle miteinander verbundenen Zwillinge aller Altersklassen wurden nach Jarime gebracht. Die meisten Versuche einer Trennung scheiterten.«
»Aber es gab auch einige Erfolge«, warf Tamun mit bewusster Munterkeit ein. »Oder zumindest haben wir den Leuten das erzählt. Die Tatsache, dass wir getrennt worden waren, ließ darauf schließen, dass Zirkler uns untersucht und akzeptabel gefunden haben mussten, daher konnten wir also unmöglich die berühmten Zwillinge sein.«
Emerahl zog die Brauen zusammen. »Diese verfluchten Götter.«
»Oh, du brauchst um unseretwillen nicht wütend zu sein«, sagte Tamun lächelnd. »Wir hatten schon immer vor, das zu tun. Wir haben nur nicht den Mut dazu aufgebracht. Was wäre, wenn es uns nicht gefiele? Was, wenn wir uns nicht wieder zusammenfügen könnten?«
»Wir bedauern nichts«, versicherte Surim Emerahl. »Und aus den damaligen Trennungen ist durchaus etwas Gutes erwachsen. Die Heilerpriester verstehen sich heute besser auf dergleichen Prozeduren, und es überleben mehr Kinder als früher.«
»Aber diejenigen, die sie töten…« Tamun runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Dafür hasse ich die Götter.«
»Unter anderem«, murmelte Surim.
Emerahl seufzte. »Ich hasse sie ebenfalls, obwohl sie mich lediglich dazu gezwungen haben, mich zu verstecken. Schlimmeres haben sie mir nicht angetan. Ich hasse sie vor allem wegen der Dinge, die sie Mirar angetan haben.« Emerahl seufzte abermals. »Wenn wir uns ihrer doch nur entledigen könnten.«
»Nun, sie können getötet werden«, sagte Tamun.
Emerahl starrte die Frau an. Tamun zuckte die Achseln. »Vor dem Krieg der Götter gab es viele Götter; danach gab es nur noch fünf.«
»Zehn jetzt«, korrigierte Surim sie.
Tamun beachtete ihn nicht. »Die Frage ist also die: Ist die Tötung eines Gottes etwas, das nur ein anderer Gott bewerkstelligen kann?«
»Und wenn es so ist, können wir einen Gott dann dazu überreden, bestechen oder erpressen, es für uns zu tun?« Surim kicherte. »Erzähl ihr von der Schriftrolle.«
»Ah, die Schriftrolle.« Tamun lächelte. »Während der letzten Jahrhunderte sind wir in den Gedanken Sterblicher gelegentlich auf Gerüchte über eine gewisse Schriftrolle gestoßen. Es heißt, sie enthalte die Geschichte des Krieges der Götter, die eine Göttin ihrer letzten Dienerin erzählte, bevor sie getötet wurde.«
Emerahls Herzschlag beschleunigte sich. »Wo ist diese Schriftrolle?«
»Das weiß niemand«, erwiderte Surim und riss dabei theatralisch die Augen auf.
»Aber gewisse Gelehrte in Südithania haben im Laufe der Jahre Hinweise darauf gesammelt und Nachforschungen angestellt. Von allen Menschen auf der Welt dürften sie diejenigen sein, die die Schriftrolle am ehesten finden könnten.«
»Es sei denn, jemand findet sie vor ihnen.«
Sowohl Surim als auch Tamun wandten sich zu ihr um, und beide sahen sie auf die gleiche erwartungsvolle, vielsagende Art und Weise an. Emerahl lachte.
»Wenn es darum geht, Andeutungen zu machen, seid ihr beide so feinfühlig wie ein dunwegischer Kriegshammer. Ihr wollt, dass ich die Schriftrolle finde.« Sie hielt inne, denn mit einem Mal stieg ihr ein köstlicher Duft in die Nase. »Ist das die Takker, die ich da rieche?«
Surim schnaubte. »Durchaus möglich.«
»Riecht gut.« Sie setzte sich ein wenig bequemer hin und drehte sich zu Tamun um. »Also, was könnt ihr mir sonst noch über diese Schriftrolle und die Gelehrten Südithanias erzählen?«
Die Insel lag weiter draußen im Meer als die Inseln von Borra. Mehrere felsige kleine Inseln zeigten den Weg dorthin, und jede einzelne davon erinnerte Reivan an winzige versunkene Berge. Als das Schiff nun in die geschützte Lagune segelte, die der König der Elai als ihren Treffpunkt ausgewählt hatte, wurde Reivan plötzlich klar, dass sie sich auf einen Krater zubewegten, der denen ähnelte, die sie in Avven gesehen hatte. Diese Inseln waren tatsächlich versunkene Berge. Wie Soldaten, die in Reih und Glied standen, erstreckte sich die Gebirgskette, die Nordithania teilte, nicht nur von Dunwegen bis nach Si, sondern auch bis in den Ozean hinein.