Der König nickte. »Ich hatte meine Zweifel. Ich gestehe, dass ich sie noch immer habe. Aber mein Volk muss sich weiterentwickeln und ist bereit, dieses Risiko auf sich zu nehmen.«
Er wandte sich zu dem Mann hinter sich um. Reivan sah, dass eine der Steinplatten mit Schriftzügen in der Sprache der Elai bedeckt war. »Bring sie her, und wir werden zusehen, wie du unsere Worte in Form von Versprechen in den Stein meißelst.« Er sah Imenja an. »Wir werden unseren Bündnisvertrag in beiden Sprachen niederschreiben.«
»Und in der Manier beider Völker«, stimmte Imenja ihm zu. Sie blickte zu Reivan hinüber. Auf ihren unausgesprochenen Befehl hin öffnete Reivan den Beutel aus Ölhaut und nahm Pergament, Tinte und ein Brett als Unterlage zum Schreiben heraus.
»Das Pergament wird dem Wasser nicht standhalten«, murmelte der Schreiber der Elai.
Reivan lächelte und holte ein Nachrichtenrohr, Ölhaut zum Einwickeln, Wachs und ein Stück Tau hervor. »Oh doch, das wird es«, versicherte sie ihm.
Er schien nicht überzeugt zu sein. Mit einem Achselzucken setzte sich Reivan mit übereinandergeschlagenen Beinen in den Sand und begann zu schreiben.
Zwischen Mirar und den wenigen Bäumen am Waldrand lag eine glatte, steile Schneedecke. Um hinabzugelangen, würde es das Einfachste sein, in langgestrecktem Zickzack hinunterzugehen. Wenn er versuchte, auf direktem Weg hinunterzukommen, würde er wohl den Halt verlieren.
Wäre das wirklich so schlecht?, fragte er sich. Es würde vielleicht schneller gehen, wenn ich hinunterrutsche. Er betrachtete die Bäume unter sich. Auch wenn sie kleiner waren als diejenigen, die tief im Wald wuchsen, waren ihre Stämme doch genauso hart. Wenn seine Rutschpartie außer Kontrolle geriet und er allzu viel Schnee dabei aufwirbelte, würde er den Weg vor sich vielleicht nicht genau erkennen können. Es bestand die Gefahr, dass er einen Baum nicht rechtzeitig bemerkte, um seine Magie zu benutzen, damit er nicht mit ihm zusammenstieß.
Ja, sagte er sich. Das wäre schlecht.
Er blickte wieder zu dem Berg hinauf und seufzte. Nur wenige Male in seinem langen Leben hatte er sich an so hoch gelegene, unwirtliche Orte gewagt und wenn, dann immer nur in Gesellschaft anderer. Die Ausblicke waren atemberaubend gewesen, aber die Wege oft trügerisch. Es war rohe magische Kraft vonnöten gewesen, um aus der eingestürzten Höhle herauszukommen, aber eine viel größere Herausforderung war es gewesen, nicht in schneebedeckte Felsspalten zu stürzen.
Langsam begann er den Abstieg über den weiten Hang. Der Schnee war locker und nicht besonders tief. Bei jedem seiner Schritte löste sich etwas davon und rutschte hangabwärts. Als er die Hälfte der Strecke bewältigt hatte, hielt er inne, um sich umzuschauen.
Einen Augenblick später begriff er, dass er sich immer noch bewegte, obwohl seine Beine stillstanden. Der ganze Hang war ins Rutschen geraten.
Sein Herz setzte einen Schlag aus und begann dann zu rasen. Die glatte Schneedecke warf Falten und Wellen. Sein Fluchtinstinkt zwang ihn, sich umzudrehen und zurückzueilen, aber der Weg, den er genommen hatte, war durch den Schnee, der sich von oben darübergeschoben hatte, fast unkenntlich geworden.
Die Bewegung ergriff seine Beine. Er versuchte, seinen Stand zu wahren, aber es gelang ihm nicht. Er fiel auf die Seite und geriet ins Rutschen, während der Schnee wie in Wellen über ihm zusammenschlug.
Ich darf nicht in Panik geraten, ermahnte er sich. Der Schnee wird mich einfach hinabtragen. Die einzige Gefahr droht mir durch Ersticken und von den Bäumen dort unten.
Er zog Magie in sich hinein, umgab sich mit einer Barriere und ließ um sein Gesicht herum ein wenig Platz, so dass er atmen konnte. Er spürte, wie er in die Tiefe gerissen wurde. Dann verlangsamte sein Absturz sich plötzlich. Schnee bedeckte ihn. Das Gewicht, das gegen seine Barriere drückte, nahm zu.
Ich bin begraben.
Erinnerungen stürmten auf ihn ein. Aus den Tiefen seines Geistes stieg Entsetzen auf. Er kämpfte dagegen an und zwang sich, langsam ein- und auszuatmen. Der Druck auf seine Barriere schien stark genug zu sein, um ihn zu zerquetschen. Wenn er auch nur für einen Moment die Konzentration verlor, würde die Barriere in sich zusammenbrechen und…
Warum es nicht einfach zulassen?
An die Stelle der Furcht trat Benommenheit.
Warum dieses Leben nicht einfach loslassen? Finde heraus, was dahinter liegt. Die Diener der Götter könnten dich in wenigen Wochen aufspüren und töten, sobald du die Küste erreichst. Warum willst du es ihnen überlassen? Stirb hier und verwehre ihnen die Befriedigung. Stell dir vor, dass sie sich bis in alle Ewigkeit fragen werden, wo du geblieben bist…
Die Kälte des Schnees war nichts im Vergleich zu dieser leeren Verzweiflung.
Welchen Grund gibt es zu leben? Mein Orden schwindet, und ich kann mich ihm nicht zu erkennen geben, ohne das Leben der Leute in Gefahr zu bringen. Die Frau, die ich liebe, ist so weit außer meiner Reichweite, wie sie es nur sein kann. Dies ist das Zeitalter der Fünf, und ich habe keinen Platz darin. Ich sollte einfach…
»Hör auf, so verdammt melodramatisch zu sein«, sagte er laut.
Er schloss die Augen, zog einen gewaltigen Strom von Magie in sich hinein und kanalisierte sie dann. Ein dumpfer Knall folgte. Das Weiß über ihm stob aufwärts und zerfiel in alle Richtungen. Als es auf ihn hinabregnete, richtete er sich auf und besah sich seine Umgebung.
Er lag jetzt in der Mitte eines großen Kraters. Nachdem er aufgestanden war, kletterte er an einer Seite des Kraters hinauf und drehte sich um, um sein Werk zu betrachten. Das Loch war recht beeindruckend. Er lächelte.
Dann fiel ein Schatten über den seinen, und sein Lächeln verblasste. Als er aufblickte, sah er zwei Siyee davongleiten.
Seufzend wandte er sich ab und trottete auf den Wald zu.
49
Auraya blieb stehen und blickte zum Altar auf. Die fünf Seiten standen aufrecht, verschlossen gegen die Welt. Szenen des hinter ihr liegenden Tages gingen ihr durch den Sinn.
Unfug hatte ihre Rückkehr angekündigt; irgendwie hatte er sich aus ihrem Zimmer geschlichen, um sich auf die Suche nach Mairaes Veez, Sternenstaub, zu machen. Kurze Zeit später war sie in Jurans Quartier gerufen worden. Mairae war dort gewesen, zusammen mit den beiden Veez.
»Warum hast du uns deine Ankunft nicht mitgeteilt?«, hatte Juran gefragt.
»Ich hatte erwartet, dass die Götter euch davon in Kenntnis setzen würden. Es hat mich überrascht, dass ihr nicht da wart, um mich zu begrüßen.« Sie zuckte die Achseln. »Es war schon spät, und ich habe beschlossen, niemanden zu wecken.«
Daraufhin hatte er genickt. »Ich möchte, dass du mir alles erzählst, was passiert ist, angefangen von dem Augenblick, als du herausgefunden hast, dass Mirar als Leiard in Si war.«
Also hatte sie alles berichtet. Es hatte einige Stunden gedauert. Von Zeit zu Zeit hatten die anderen Weißen sie mit Fragen unterbrochen. Dyara und Rian hatten durch eine Vernetzung mit Juran zugehört.
Als sie schließlich zum Ende gekommen war, hatte Juran von der Strafe der Götter gesprochen und gefragt, ob sie bereit sei, diese anzunehmen.
»Für mich selbst bin ich dazu bereit«, hatte sie geantwortet. »Aber es fällt mir schwer zu akzeptieren, dass die Siyee für meine Taten bestraft werden sollen.«
Du hättest an die möglichen Konsequenzen für die Siyee denken sollen, bevor du den Göttern den Gehorsam verweigert hast, hatte Dyara gesagt.