»Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass die Götter … dass sie… eine solche Entscheidung treffen würden«, erwiderte Auraya.
Du zweifelst noch immer an der Weisheit der Götter, warf Rian ein.
»Ja«, antwortete sie. Er hatte in den vergangenen Stunden mehrere derart herablassende Bemerkungen gemacht. »Wenn die Fähigkeit zu zweifeln keine Voraussetzung für einen Weißen wäre, hätten die Götter mich nicht erwählt. Und gewiss hätte eine solche Anforderung die Zahl der Kandidaten bei Auserwählungszeremonien verringert.«
Auraya erinnerte sich daran, dass Mairae bei ihrem Einwurf gelächelt hatte, aber als Juran sich in ihre Richtung gewandt hatte, hatte sie sofort eine Miene strenger Missbilligung aufgesetzt. In diesem Moment ist mir klar geworden, dass sie alle fanden, sie müssten sich benehmen, als sei ich ein unartiges Kind. Als müssten sie jedwedes Mitgefühl, das sie empfanden, unterdrücken, ob es nun mir oder meinen Entscheidungen galt.
Es gibt nur wenige, die würdig sind, den Göttern zu dienen, hatte Rian als Nächstes gesagt.
Daraufhin war sie zusammengezuckt. Ich weiß, ich bin eine Närrin gewesen, hatte sie gedacht. Ich bedauere es nicht, da meine einzige Alternative darin bestanden hätte, eine Heuchlerin und Mörderin zu sein. Ich wünschte nur, meine Entscheidung, lieber eine Närrin zu sein, hätte nicht solche Konsequenzen für die Siyee gehabt. Ich würde alles tun, um das wiedergutzumachen.
An diesem Punkt war Juran eingeschritten und hatte erklärt, dass sie sich bemühen sollten, zusammenzuarbeiten und unnötigen Streit zu vermeiden. Dass die Dinge wieder so werden sollten, wie sie es einmal gewesen waren. Mairae hatte ihn daraufhin mit einer Mischung aus Kummer und Mitleid angesehen.
»Ich bezweifle, dass die Dinge jemals wieder so werden, wie sie waren«, hatte sie gemurmelt.
Auraya fragte sich, auf wen Mairae ihre Worte bezogen hatte. Vielleicht auf sich selbst? Hatten die Entscheidungen der Götter eine weitere Weiße verleitet, Fragen zu stellen? Oder sprach Mairae von allen Weißen? Oder nur von mir?
Von den Siyee hatte sie jedenfalls offenkundig nicht gesprochen. Niemand schien sich auch nur die geringste Sorge um das Himmelsvolk zu machen. Als Juran Auraya schließlich aus seinem Quartier geleitet hatte, hatte sie sich zu ihm umgedreht und gefragt, ob er Mirars heilende Gabe erlernen wolle. Er hatte den Kopf geschüttelt, als entsetze ihn der bloße Gedanke daran.
Ein leises Seufzen der Luft lenkte Aurayas Aufmerksamkeit wieder auf den Altar. Die fünf Seiten klappten langsam auf. Ihr Herz setzte einen Moment lang aus, dann begann es zu rasen.
Ich stehe im Begriff, ein ungeheures Risiko einzugehen, dachte sie. Ich könnte alles verlieren. Aber wie Mairae gesagt hatte, die Dinge würden nie wieder so sein wie früher. Ich habe bereits eine Menge verloren. Wenn ich auch noch den Rest verliere, werde ich das einfach akzeptieren müssen.
Hastige Schritte hallten in der Kuppel wider. Auraya drehte sich um und sah, dass Juran und Mairae auf sie zukamen. Sie wandte sich ab, ging zu dem Altartisch hinauf und nahm auf ihrem Stuhl Platz.
»Weshalb hast du uns hierhergerufen?«, verlangte Juran zu wissen, als er den Altar erreichte.
»Ich habe eine Frage, die ich den Göttern stellen will«, antwortete sie und sah ihm dabei fest in die Augen. »Du möchtest die Antwort darauf vielleicht auch hören.«
Er starrte sie an, offenkundig verärgert darüber, dass sie eine Zusammenkunft einberufen hatte, ohne sich zuvor mit ihm zu beraten. »Und wie lautet diese Frage?«
»Das wirst du hören, sobald du den Ritus beginnst und die Götter erscheinen.«
Er zögerte, dann legte Mairae ihm eine Hand auf die Schulter.
»Nur zu. Ich bezweifle, dass wir auf andere Weise etwas aus ihr herausbekommen.«
Juran nahm seufzend seinen Platz ein. Mairae ließ sich anmutig auf ihren Stuhl sinken, und ihre Augen leuchteten vor Neugier.
»Du sorgst jedenfalls für Unterhaltung, Auraya«, sagte sie anerkennend in einer Lautstärke, die beinahe ein Flüstern war.
Auraya brachte ein Lächeln zustande. Sie sah Juran erwartungsvoll an. Er seufzte abermals, dann schloss er die Augen.
»Chaia, Huan, Lore, Yranna, Saru«, begann er das Ritual. »Einmal mehr danken wir euch für den Frieden, den ihr über Nordithania gebracht habt, und für die Gaben, die es uns ermöglicht haben, diesen Frieden zu bewahren. Wir danken euch für eure Weisheit und Leitung.«
»Wir danken euch«, murmelte Auraya zusammen mit Mairae. Sie konzentrierte sich auf die Magie um den Altar herum, konnte aber keine Spur von den Göttern entdecken.
»Auraya wünscht, euch eine Frage zu stellen. Wenn ihr ihr eine Antwort gewähren wollt, bitte, erscheint vor uns.«
»Leitet uns«, sagte sie leise.
Juran öffnete die Augen und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Als Auraya zu ihm hinüberblickte, sah sie Zweifel in seinen Zügen. Er erwartete nicht, dass die Götter reagieren würden. Aber noch während sie ihn ansah, spürte sie am Rand ihrer Wahrnehmung die Präsenz der Götter. Sie bewegten sich auf sie zu.
Langsam erschienen fünf leuchtende Gestalten rund um den Altar herum. Chaia erschien neben Juran. Er sah Auraya an und lächelte, aber dann verblasste sein Lächeln, als er ihre Gedanken las.
Wie lautet deine Frage, Auraya?
Huan hatte gesprochen. Plötzlich stieg Furcht in Auraya auf. Dies war die Göttin, der sie getrotzt hatte. Dies war außerdem die Göttin, die fraglosen Gehorsam verlangte.
Auraya zwang sich, Huan anzusehen, und nahm dann ihren ganzen Mut zusammen. »Werdet ihr mir gestatten, von meiner Position als Weiße zurückzutreten?«
Juran keuchte auf, und Mairae sog scharf die Luft ein.
»Nein, Auraya!«, sagte Juran. »Das ist nicht notwendig.«
»Wir waren heute alle ein wenig streng zu dir. Du darfst Rian nicht allzu ernst nehmen«, fügte Mairae hinzu.
Auraya hielt den Blick weiter auf Huan gerichtet. Die Augen der Göttin wurden schmal.
Wohin wirst du gehen?
»Nach Si.«
Huan betrachtete die anderen Götter.
Wir müssen darüber sprechen. Bleibt hier.
Die fünf Gestalten verschwanden. Auraya holte tief Luft und stieß den Atem dann langsam wieder aus.
»Auraya«, sagte Juran scharf. »Du hast erklärt, dass du die Strafe der Götter akzeptieren würdest.«
Sie drehte sich zu ihm um. »Und das habe ich auch getan. Aber ich kann nicht akzeptieren, dass sie die Siyee im Stich lassen.«
Er runzelte die Stirn. »Sind die Siyee es wert, dass du deine Position aufgibst, deine Unsterblichkeit – deine Gabe zu fliegen? Wie kannst du ihnen ohne diese Fähigkeit helfen?«
»Ich werde tun, was ich kann«, antwortete sie. »Ich…« Sie schüttelte den Kopf. Am Rand ihrer Wahrnehmung war ein Summen erklungen. Sie konzentrierte sich auf dieses Geräusch und stellte zu ihrer Überraschung fest, dass sie Worte ausmachen konnte.
… dich gewarnt, dass dies geschehen könnte, aber du hast ja darauf bestanden, sie wieder und wieder zu prüfen.
Es war Chaia, wie sie erkannte. Er war wütend.
Nicht mehr, als wir auch die anderen geprüft haben, erwiderte Huan.
Nachdem sie viele Jahre lang in unseren Diensten gestanden haben!
Sie war die letzte Weiße. Es stand von vornherein fest, dass sie nicht den Luxus von allzu viel Zeit haben würde, um sich an ihre Rolle zu gewöhnen. Jetzt können wir einen würdigeren Ersatz für sie finden. Was sagt ihr Übrigen dazu?
Einverstanden, antwortete Lore.
Ja, fügte Yranna hinzu.
Gebt ihr, was sie will, pflichtete Saru ihnen bei. Dann können wir uns ihrer entledigen.