Er sah ihr in die Augen, dann wandte er den Blick wieder ab. Schließlich nickte er langsam. »Ja. Aber… besprich dich auch mit den anderen und lass dir ihre Zustimmung geben.«
»Das ist eine gute Idee. Wir werden darüber abstimmen. Ich werde mich heute Nacht mit den Anführern anderer Länder im Traum vernetzen.« Sie griff nach ihrem Glas und reichte es Meeran. »Ich werde einen klaren Kopf brauchen.«
Er nahm das Glas entgegen, trank jedoch nicht. Stattdessen sah er sie mit einem eigenartigen Ausdruck an.
»Ich habe das schreckliche Gefühl, dass wir einem Augenblick großer Veränderung gegenüberstehen. Entweder werden wir uns eine wunderbare Gelegenheit entgehen lassen, den Völkern Nordithanias unseren Wert zu beweisen, oder wir werden uns überflüssig machen.«
Arleej schüttelte den Kopf. »Selbst wenn die Zirkler uns an Heilkenntnissen übertreffen sollten, selbst wenn sie lernen würden, durch Träume und Gedankenvernetzungen zu heilen, werden sie niemals all das sein können, was wir sind. Jene, die die Wahrheit suchen, werden immer zu uns kommen.«
»Ja.« Er lächelte und hob sein Glas. »Auf die Netzerinnerungen.«
6
Auch nach einer Woche hatte sich die Stimmung der Götterdiener nicht gebessert. Reivan fragte sich mehrmals am Tag, ob ihre Kälte nur gegen sie gerichtet war. Alle Gespräche endeten, sobald sie in die Nähe kam. Wenn sie mit einer Frage oder einer Bitte an einen Götterdiener herantrat, wurde sie schnell und verächtlich abgefertigt. Wenn sie im Flur an zwei Götterdienern vorbeikam, geschah es manchmal, dass einer sich zu dem anderen vorbeugte und mit ihm tuschelte.
Sie sagte sich, dass sie einfach nicht an die Sitten und Gepflogenheiten hier gewöhnt war. Die Götterdiener in dem Kloster, in dem sie aufgewachsen war, waren zwar still und zurückhaltend gewesen, aber während der vergangenen Jahre hatte sie anregendere Gesellschaft genossen. Die Denker mochten sie nicht respektiert haben, aber sie hatte immer einige von ihnen in ein Gespräch verwickeln können – oder zumindest in eine Debatte. Sie war es gewohnt, unter temperamentvolleren, freundlicheren Menschen zu leben, das war alles.
Die Ergebene Drevva und die anderen Götterdiener, die ihr Wissen und ihre Fähigkeiten prüften, behandelten sie gerecht, erkannten ihre Stärken an und machten keinen allzu großen Wirbel um ihre Schwächen, nicht einmal um ihren offenkundigen Mangel an übernatürlichen Fähigkeiten. Die anderen hoffnungsvollen Neulinge des Sanktuariums waren auf eine Art und Weise höflich, wie junge Menschen sie jenen gegenüber an den Tag legten, die nicht im selben Alter waren.
Die Bäder des Sanktuariums entschädigten sie in hohem Maße für ihr enges, kleines Zimmer. Sauberkeit galt als unabdingbar für einen Diener der Götter, und man erwartete von allen Männern und Frauen, dass sie jeden Morgen eine Stunde in einer Wanne zubrachten und sich gründlich schrubbten. Solchermaßen erfrischt, zog Reivan die schlichten Kleider an, mit denen das Sanktuarium sie ausgestattet hatte, dann verließ sie den Raum. Als sie an einer Tür vorbeikam, fing sie Bruchstücke eines Gesprächs aus der in Dampf gehüllten Waschkammer dahinter auf.
»… Imenjas Schoßtier weihen.«
»Sie hat die Prüfungen bestanden? Ich dachte, sie sei unbefähigt.«
»Der Befehl kam direkt von der Zweiten Stimme. Ich soll sie durchwinken, solange sie die anderen Prüfungen besteht.«
Reivan erstarrte. Imenjas Schoßtier? Sie mussten von ihr sprechen. Keiner der anderen Neulinge hatte, soweit sie wusste, eine Beziehung zu Imenja.
»Ich verstehe es nicht«, fügte die erste Sprecherin hinzu. Erschrocken stellte Reivan fest, dass es sich um die Ergebene Drevva handelte. »Welchen Sinn hat es, sie zu einer Götterdienerin zu machen, wenn sie über keinerlei magische Fähigkeiten verfügt? Warum ernennt sie sie nicht einfach zu einer Ratgeberin?«
Reivans Magen krampfte sich zusammen.
»Ich habe gehört, dass sie das als Belohnung gefordert haben soll.«
»Was? Eine Weihe zur Götterdienerin ist nichts, was man verteilen kann wie Süßigkeiten an ein braves Kind!«
»Hmm«, erklang jetzt eine dritte Stimme. »Das verleidet sie mir noch mehr. Wenn es ihr bestimmt wäre, eine Götterdienerin zu sein, wäre sie mit größeren Fähigkeiten geboren worden.«
Der Klang näher kommender Schritte lenkte Reivans Aufmerksamkeit wieder auf ihre unmittelbare Umgebung. Ihr war klar, dass jeder, der sie vor der Tür herumlungern sah, sie verdächtigen würde, zu spionieren – und sie brauchte den Götterdienern wahrhaftig keine weiteren Gründe zu liefern, sie zu hassen. Also setzte sie ihren Weg fort.
Zurück in ihrem Zimmer, hockte sie sich auf die Bettkante und seufzte.
Also war mein Argwohn doch nicht übertrieben. Sie behandeln mich tatsächlich anders. Und es liegt daran, dass ich unbefähigt bin.
Was im Grunde keine Überraschung war. Die Tatsache, dass sie übernatürliche Fähigkeiten besaßen, machte die Götterdiener zu etwas Besonderem. Genauso, wie ihre Klugheit den Denkern ihren Platz in der Gesellschaft sicherte. Es war eine Ironie des Schicksals zu entdecken, dass die Götterdiener sich des Gefühls, anderen überlegen zu sein, ebenso unsicher waren wie die Denker und genau wie diese versuchten, es sich durch Ausgrenzung aller anderen zu erhalten.
Das ist ihre Schwäche, dachte sie. Allerdings keine Schwäche, die ich mir ohne weiteres zunutze machen könnte. Ich bin nicht hier, um die Götterdiener in irgendeinem Wettkampf zu übertreffen. Ich bin hier, um mich ihnen anzuschließen.
Die Schritte, die sie kurz zuvor im Flur gehört hatte, hielten vor ihrer Tür plötzlich inne, und sie sah, dass etwas unter der Tür hindurchgeschoben wurde. Sie stand auf und bückte sich, um es aufzuheben.
Es war eine kleine Schriftrolle, leicht zerdrückt an der Stelle, an der sie unter der Tür hindurchgezwängt worden war. Sie lachte leise, als sie sah, dass das Schreiben an »Götterdienerin Reivan Riedschneider« adressiert war. Noch bin ich keine Götterdienerin, dachte sie erheitert.
Sie drehte die Schriftrolle um, und ihre Erheiterung löste sich in nichts auf, als sie das Siegel der Denker sah. Sie erbrach es, breitete die Schriftrolle aus und begann zu lesen.
Götterdienerin Reivan Riedschneider,
es ist uns zu Gehör gekommen, dass Du in das Sanktuarium eingetreten bist, in der Absicht, eine Götterdienerin zu werden. Da dies von Dir verlangt, dass Du Deine Zeit, Deine Fähigkeiten und Dein Leben zur Gänze den Göttern weihst, kannst Du die Bedingungen, die an eine Denkerin gestellt werden, selbstverständlich nicht mehr erfüllen. Niemand kann zwei Herren dienen. Deine Mitgliedschaft wurde Dir entzogen.
Reivan stellte fest, dass ihr Herz raste. Sie murmelte einen Fluch. Wenn sie die Prüfungen nicht bestand und keine Götterdienerin wurde, würde sie, wenn sie das Sanktuarium verließ, kein Heim mehr besitzen, nur geringes Vermögen und keine gesetzlichen Möglichkeiten, sich mit etwas anderem als niederen Arbeiten ein Einkommen zu sichern. Sie riskierte ihre Zukunft – sogar ihr Leben – für Prüfungen, die sie unmöglich bestehen konnte.
Nein, dachte sie und holte tief Atem. Imenja hat ihr Wort gehalten. Sie hat Drevva befohlen, meinen Mangel an magischen Fähigkeiten zu ignorieren. Ich kann nur hoffen, dass ich die anderen Prüfungen bestanden habe.
Es klopfte an ihrer Tür. Sie schob den Brief unter ihre Matratze und ging durch den Raum, um die Tür zu öffnen. Im Flur stand die Ergebene Drevva, ein Bündel aus schwarzem Tuch in Händen.
»Zieh das an und komm in mein Zimmer«, befahl sie.
Reivan schloss die Tür und entfaltete das Bündel. Es war die Robe eines Götterdieners. Ihr Herz begann abermals heftiger zu schlagen, und ihre Hände zitterten, als sie die Robe hastig überstreifte. Dann strich sie den Stoff glatt und fragte sich, wie sie wohl darin aussehen mochte. Stand ihr das Gewand? Verlieh es ihr die Aura von Autorität, die sie in der Vergangenheit bei anderen Götterdienern bewundert hatte?