Allerdings gehörte noch kein Sternenanhänger der Dienerschaft dazu. Den würde sie bekommen, wenn sie ihr Noviziat beendete.
Ich habe noch immer so viel zu lernen, ging es ihr durch den Kopf. Sie werden es mir nicht leichtmachen, aber vielleicht ist es das Beste so. Es sollte nicht leicht sein, ein Götterdiener zu werden. Ich muss beweisen, dass ich dieser Ehre würdig bin.
Sie straffte sich. Und ich werde es beweisen. Und sei es auch nur, um Imenjas Entscheidung zu rechtfertigen.
Sie klammerte sich an dieses Gefühl der Entschlossenheit und verließ den Raum. Auch andere Neulinge, die ebenfalls in Schwarz gewandet waren, liefen aufgeregt durch den Flur und klopften an alle Türen ihrer Gefährten. Einer bemerkte sie und grinste. Sie erwiderte sein Lächeln.
Dieses Chaos formte sich schnell zu einer Reihe schwarzgewandeter Neulinge, die auf dem Weg zu Drevvas Zimmer waren. Die Ergebene erwartete sie vor ihrer Tür. Sie sah einen jeden von ihnen genau an, dann nickte sie.
»Es ist an der Zeit«, sagte sie. Mit diesen Worten drehte sie sich um und führte sie den Gang hinunter zum Hauptflur.
Während Reivan der Gruppe folgte, konnte sie nicht umhin, an Drevvas Worte im Badehaus zu denken. Sie fühlte sich ein wenig verraten. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Reivan geglaubt, die Frau sei von allen Götterdienern, denen sie bisher begegnet war, diejenige, die ihr am wenigsten unfreundlich begegnete. Drevva hatte ihre wahren Gefühle gut zu verbergen gewusst.
Ihr Weg führte sie stetig hügelaufwärts. Das Untere Sanktuarium war ein Gewirr von Gebäuden, aber der Hauptweg durchschnitt sie in einer geraden Linie. Schließlich erreichten sie die weiß getünchten Mauern des Mittleren Sanktuariums. Drevva wies sie an, sich in einer Reihe vor einer schmalen Tür aufzustellen, durch die sie verschwand.
Einer nach dem anderen betraten die zukünftigen Novizen das Gebäude. Als Reivan nahe genug stand, um durch die Tür zu schauen, erhaschte sie einen Blick auf einen großen Raum mit schwarzen Wänden. Der Boden war mit schwarzen Fliesen bedeckt. Ihr Herz begann zu rasen.
Das ist der Sternensaal!
Sie war im Begriff, den Ort zu betreten, an dem die geheimsten Zeremonien abgehalten wurden. Den Ort, an dem die Stimmen mit den Göttern in Verbindung traten. In dem Raum konnte sie dunkelhäutige Dekkaner aus den Dschungeln des Südens sehen, hellhäutige, hochgewachsene Männer und Frauen der Wüstenvölker von Avven, daneben Leute aus Mur mit breiten Gesichtern und sandfarbenem Haar sowie einige Personen, die gemischten Blutlinien entstammen mussten. Alle trugen schwarze Roben. Alle würden bezeugen, wie sie zu einer Novizin gemacht wurde. Reivan ertappte sich dabei, dass sie an ihren Fingernägeln kaute – eine alte Angewohnheit aus Kindertagen -, und zwang sich, die Hände sinken zu lassen.
Der junge Mann vor ihr trat in den Raum. Jetzt, da sie einen ungehinderten Blick hatte, konnte Reivan den Sternensaal genauer erkennen. Er hatte fünf Wände, und ein in den Boden eingelassenes silbernes Band formte die Linien eines Sterns, dessen Spitzen bis in die Ecken des Raums reichten. In der Mitte stand eine vertraute Gestalt. Reivan wurde ein wenig leichter ums Herz.
Imenja.
Die Stimme streckte eine Hand nach dem jungen Mann aus, die Handinnenfläche nach oben gedreht, die Finger gespreizt, und sprach die rituellen Worte. Er legte nervös seine Hand auf ihre. Reivan hörte ihn etwas murmeln, dann kam Imenjas Antwort. Anschließend schlug die Stimme das Zeichen des Sterns über ihrer Brust, und der junge Mann folgte ihrem Beispiel. Er neigte den Kopf und eilte zu der Gruppe frisch geweihter Novizen hinüber.
Imenja blickte zu Reivan auf, lächelte und winkte sie heran.
Reivan holte tief Luft und trat, wie sie hoffte, mit würdevoller Anmut in den Raum. Als sie vor der Stimme stehen blieb, wurde Imenjas Lächeln breiter.
»Reivan von den Denkern«, sagte sie. »Wir verdanken dir viel, aber das ist nicht der Grund, warum du heute hier bist. Du stehst jetzt vor mir, weil du mehr als alles andere den Göttern dienen willst und weil du dich dieser Aufgabe als würdig erwiesen hast.« Sie streckte die Hand aus. »Schwörst du, den Göttern zu dienen und zu gehorchen und sie über alles andere zu stellen?«
Reivan drückte ihre Hand leicht auf Imenjas. »Ich schwöre es.«
»Dann wirst du von diesem Augenblick als Dienernovizin Reivan bekannt sein. Wir heißen dich in unserer Mitte willkommen.«
Sie lösten ihre Hände voneinander. Reivan nahm jedes Geräusch um sich herum wahr, jedes Schlurfen von Füßen, jedes unterdrückte Hüsteln von den umstehenden Götterdienern. Imenja schlug das Zeichen des Sterns. Reivans Hand bewegte sich durch die symbolische Geste, als besäße sie einen eigenen Willen. Dann neigte sie den Kopf und trat beiseite. Ihre Beine fühlten sich schwach und zittrig an, als sie zu den anderen neu ernannten Dienernovizen hinüberging.
»Heute haben sich acht junge Männer und Frauen dafür entschieden, ihr Leben den Göttern zu weihen«, sagte Imenja mit ruhiger Stimme. »Heißt sie willkommen. Unterrichtet sie. Helft ihnen, ihr Potenzial zu erkennen. Sie sind unsere Zukunft.«
Als sie aus dem Stern heraustrat, füllte sich der Raum mit Geräuschen. Die Götterdiener entfernten sich von der Wand, und ihre Sandalen scharrten über den Boden. Einige kamen auf die neuen Dienernovizen zu, die sie zu kennen schienen. Die Übrigen versammelten sich zu kleinen Gruppen, und ihre Stimmen hallten von den Wänden wider. Zu Reivans Entsetzen ging Imenja zur Tür hinüber und verschwand.
Sie wusste nicht, was sie als Nächstes tun sollte, und als niemand auf sie zukam, um ihr Anweisungen zu geben, blieb sie stehen, wo sie war, und beobachtete die Menschen um sich herum. Niemand sah sie an. Ein Stich der Einsamkeit durchzuckte sie, eine Regung, die sie überraschte.
Da nun mehrere Götterdiener den Raum verließen, vermutete sie, dass sie ebenfalls davonschlüpfen konnte. Sie schlenderte auf den Ausgang zu und hoffte, dass man ihr Fortgehen nicht unhöflich finden würde.
»Dienernovizin Reivan.«
Die Stimme gehörte einem Mann, und sie war ihr fremd. Als Reivan sich umdrehte, sah sie einen recht attraktiven Ergebenen Götterdiener näher kommen. Es war Nekaun, einer der wenigen, deren Namen sie sich während des Krieges gemerkt hatte. Es ist immer einfacher, sich an die Namen gutaussehender Menschen zu erinnern, überlegte sie.
Er lächelte geduldig, während sie respektvoll das Zeichen des Sterns schlug. »Willkommen im Sanktuarium, Reivan«, sagte er. »Ich bin Nekaun.«
Sie neigte den Kopf. »Vielen Dank, Ergebener Götterdiener Nekaun.«
»Du wirst eine gute Götterdienerin abgeben.«
Sie konnte keinen Anflug von Verachtung in seiner Stimme wahrnehmen und brachte ein Lächeln zuwege, obwohl sie befürchtete, dass es eher wie eine Grimasse wirken musste. »Ich hoffe es.«
Eine steile Falte bildete sich zwischen seinen Brauen. »Ich vermute, dass du das Gefühl hast, nicht hierher zu passen. Hab ich recht?«
Sie zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich.«
»Gib dir nicht allzu große Mühe, daran etwas zu ändern«, fuhr er fort. »Imenja hat dich nicht auserwählt, weil du wie alle anderen bist.«
Sie öffnete den Mund zu einer Erwiderung, fand aber nicht die richtigen Worte. Nekaun lächelte, und ihr Herz setzte einen Schlag aus.
Bei den Göttern, aus der Nähe sieht er noch besser aus, dachte sie. Plötzlich wusste sie nicht mehr, was sie sagen sollte, aber es spielte auch keine Rolle, da er sich jetzt im Raum umblickte.
»So viel Geplapper. Weißt du, worüber sie reden?«
Sie schüttelte automatisch den Kopf, dann lächelte sie, als ihr aufging, dass sie es sehr wohl wusste. »Sie fragen sich, wer die nächste Erste Stimme sein wird?«