Auraya kicherte. »Wir rechnen damit, dass wir, um irgendwo hinzukommen, viermal so lange brauchen wie sonst. Bist du früher noch nie den Menschenmengen bei solchen Festen begegnet?«
»Nur zu Fuß«, antwortete er. »Die Straßen, in denen ich lebe, sind nicht mit feiernden Menschen überfüllt, und dort umringen sie auch nicht jeden Tempelplattan, der vorbeifährt.«
Sie lächelte. »Wir können uns kaum darüber beklagen, nicht, wenn sie die Absicht haben, etwas zu spenden.«
Das Klirren einer Münze in der Spendenschachtel des Plattans unterstrich ihre Worte.
Danjin seufzte abermals. »Darüber beklage ich mich ja auch nicht. Ich wünschte nur, sie würden ihre Spenden wie alle anderen auch beim Tempel abgeben, statt Tempelplattans aufzuhalten.«
»Sie sollen im Tempel spenden wie die Wohlhabenden und Wichtigen?«, fragte sie. »Arme Betrunkene sollen Schulter an Schulter mit reichen Betrunkenen stehen?«
Er rümpfte die Nase. »Das können wir wohl nicht zulassen.« Er hielt inne, dann leuchteten seine Augen auf. »Es sollte einen Spendentag für wohlhabende Spender geben und einen anderen für die Übrigen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Wenn wir das täten, würde sich im Tempelbezirk eine so große Menschenmenge einfinden, dass man das Grundstück überhaupt nicht mehr verlassen könnte. Als die Menschen vor Jahren anfingen, ihr Geld in die Spendenschachteln der Plattans zu werfen, hatte das seinen Grund darin, dass es im Tempelbezirk einfach zu voll wurde. Jetzt wäre es noch schlimmer.« Sie zuckte die Achseln. »Betrunkene Festgäste haben schon immer ein spontanes Bedürfnis verspürt, uns Geld oder Geschenke zu geben. Es ist schwierig, sie davon abzubringen, und jeder Versuch in dieser Richtung führt im Allgemeinen zu einer noch längeren Verzögerung. Deshalb haben wir auch die Spendenschachteln an unseren Plattans anbringen lassen. Es ist die beste Lösung.«
»Aber was würden wir tun, wenn wir dringend irgendwohin müssten?«
»Ich würde das Verdeck öffnen und die Menschen bitten, die Straße freizumachen.«
»Würden sie das tun? Die Hälfte von ihnen ist so betrunken, dass sie kaum noch etwas mitbekommt.«
Sie lachte. »Ja, das ist wahr. Schließlich ist dies ein Festtag.« Sie schob den Vorhang ein Stück beiseite und spähte hinaus. »Es ist so ermutigend, so viele glückliche Menschen zu sehen. Das macht einem klar, dass nicht alle im Krieg gestorben sind und dass die Bewohner unserer Stadt wieder fröhlich sein können.«
Danjin ließ sich in seinen Sitz zurücksinken. »Ja, du hast wahrscheinlich recht. So habe ich das noch gar nicht betrachtet. Wahrscheinlich bin ich zu ungeduldig.«
Mit einem Mal beschleunigte der Plattan sein Tempo. Er bog um eine Ecke, und das Geräusch der in die Schachteln fallenden Münzen verebbte. Danjin hob an seiner Seite des Wagens den Vorhang ein wenig an.
»Endlich«, murmelte er. »Die Zivilisation hat uns wieder.«
Zu beiden Seiten der Allee standen die Villen reicher Leute. Die Straße zum Tempel war die einzige Durchgangsstraße der Stadt, in der die Wachen keine Festgäste duldeten. Stattdessen konnte man eine lange Reihe prächtig geschmückter Plattans sehen. Die Wohlhabenden verschmähten Spendenschachteln, denn sie zogen es vor, viel Aufhebens um ihren persönlichen Besuch im Tempel zu machen.
»Dort ist die Familie Tither«, sagte Danjin mit besorgtem Tonfall. »Sieh dir nur die Größe dieser Truhen an! Sie können es sich nicht leisten, so viel wegzugeben!«
Auraya blickte über seine Schulter. Sie streckte ihre Sinne aus und las die Gedanken des alten Ehepaares in dem Plattan der Tithers.
»Die erste Truhe ist voller Töpferwaren, in der zweiten befinden sich Decken und in der dritten Öl«, erklärte sie ihm. »Pa-Tither trägt außerdem eine bescheidene Summe Gold bei sich.«
»Ah.« Danjin atmete erleichtert auf. »Dann ist das alles nur Theater. Ich hoffe, es macht den Göttern nichts aus.«
Auraya lachte. »Natürlich nicht! Sie haben noch nie Geld von ihren Anhängern verlangt oder erwartet. Auf diese Idee sind die Menschen selbst gekommen. Wir haben ihnen gesagt, wie wir dazu stehen: Wenn sie den Göttern einen Teil ihres Einkommens opfern, heißt das noch lange nicht, dass ihnen nach ihrem Tod ein Platz an ihrer Seite gewiss ist, aber sie lassen sich nicht davon abbringen.«
»Nur für den Fall des Falles.« Danjin kicherte. »Aber wenn sie es nicht täten, geriete der Tempel in Schwierigkeiten. Wie sonst sollte man für die Ernährung, die Kleidung und die Unterbringung von Priestern aufkommen können – und obendrein noch Geld für wohltätige Zwecke erübrigen?«
»Wir würden eine andere Lösung finden.« Auraya zuckte die Achseln. »Diese Tradition hat noch andere Vorteile. Einer der Bauern in meinem Dorf spendet im Sommer den größten Teil seiner Einkünfte an den örtlichen Tempel, und wenn er das Geld im Winter benötigt, verlangt er das meiste wieder zurück. Er sagt, dass er sein Geld anderenfalls zu schnell ausgeben würde und dass es sein bester Schutz vor Räubern sei, seine Habe in die Obhut der Priester zu geben.«
»Weil Priester in der Regel über größere Gaben verfügen als jeder andere«, bemerkte Danjin.
Er wirkte jetzt entspannter, wie Auraya feststellte. Sie kamen gerade vom Hospital, das in einem der ärmeren Bezirke der Stadt lag. Als Mitglied der Oberklasse der Stadt hatte er allen Grund, sich dort unbehaglich zu fühlen. Wäre er allein gewesen, gekleidet wie er war, hätte man ihn wahrscheinlich ausgeraubt.
Zu dieser Zeit des Jahres hatte er doppelten Grund zur Vorsicht. Das Sommerfest wurde auch als das Fest der Diebe bezeichnet. Räuber und Taschendiebe übertölpelten die Anhänger der Götter, wann immer sie es konnten; sie lauerten ihnen auf, bevor sie ihre Spende abgeben konnten, oder brachen in ihre Häuser ein, um nach den Ersparnissen zu suchen, die vor dem Fest dort aufbewahrt wurden.
Im vergangenen Jahr hatte ein gewitzter junger Dieb ein Vermögen erworben, indem er unter die Tempelplattans kroch, ein Loch in den Boden der Spendenschachteln bohrte und die Münzen einsteckte. Seine anfänglichen Erfolge hatten ihn übermütig gemacht, und am letzten Tag des Festes, nachdem bereits Berichte über die Diebstähle in Umlauf gekommen waren, hatten aufgebrachte Gläubige ihn erwischt und zu Tode geprügelt.
»Wir können jetzt nicht mehr weit entfernt sein«, murmelte Danjin und spähte abermals durch einen Spalt zwischen den Vorhängen.
Auraya schloss die Augen und suchte nach den Gedanken der Menschen um sie herum. Aus dem Geist des Fahrers las sie, dass sie sich dem Tempeleingang näherten, dann fing sie leichten Ärger aus dem Wagen vor ihnen auf. Als sie näher hinschaute, erfuhr sie, dass die Frau darin Terena Würzer war, die Matriarchin einer der wohlhabendsten und mächtigsten Familien der Stadt. Es erheiterte Auraya und beunruhigte sie auch ein wenig, festzustellen, dass der Ärger der Frau sich gegen sie selbst richtete.
Fasziniert beobachtete sie, wie die Gedanken der Frau auf und ab wogten. Sie bemerkte es kaum, als Danjin ihr mitteilte, dass sie den Bogen durchfahren hatten und sich jetzt auf dem Gelände des Tempels befanden. Erst als der Plattan stehen blieb, löste sie sich aus ihrer Konzentration. Sie stiegen aus. In den gepflasterten Höfen vor dem Turm standen dicht an dicht etliche Plattans. Terena Würzer war noch nicht aus ihrem Wagen gestiegen. Auraya bedeutete Danjin, ihr zu folgen, dann eilte sie in den Turm.
Die riesige Halle war voller Priester, Priesterinnen und wohlhabender Familien, die miteinander schwatzten, nachdem sie ihre Spenden abgeliefert hatten. Wie immer beim Eintreten einer Weißen lief ein erregtes Raunen durch die Menge. Auraya ging mit schnellen Schritten auf den Raum zu, in dem die Spenden dargeboten wurden. Trotzdem trat ein Mann auf sie zu, offenkundig in der Absicht, sie anzusprechen. Zu ihrer Erleichterung versperrte ihm eine Priesterin den Weg.
Danjin folgte ihr voller unausgesprochener Fragen. Sie überlegte kurz, ob sie stehen bleiben sollte, um ihm zu erklären, was er wissen wollte, aber sie hatten zu wenig Zeit. Als sie sich ihrem Ziel näherte, blickte sie flüchtig in die Gedanken der Menschen im Spendenraum. Eine Familie hatte soeben ihren Beitrag abgeliefert und wollte gerade gehen. Auraya öffnete die Tür und trat ein.