Dann wurden die Wände des Tunnels jäh breiter, und Imenjas Licht erhellte eine riesige Höhle.
Reivan sog scharf die Luft ein. Überall um sie herum fanden sich fantastische weiße Säulen, einige so dünn wie ein Finger, andere breiter als die uralten Bäume von Dekkar. Manche hatten sich zu wahren Vorhängen vereinigt, andere waren abgebrochen, und über ihren Stümpfen hatten sich pilzähnliche Oberflächen gebildet. Alles glitzerte von Feuchtigkeit.
Als Reivan sich umdrehte, sah sie, dass Imenja lächelte. Die Zweite Götterstimme ging an den Denkern vorbei in die Höhle und blickte zu den Felsformationen auf.
»Wir werden hier für eine Weile Rast machen«, verkündete sie. Ihr Lächeln verblasste, und sie sah die Denker vielsagend an, bevor sie sich abwandte und die Armee in die Höhle führte.
Reivan blickte zu Hitte hinüber, und plötzlich wurde ihr klar, was Imenjas Verhalten hervorgerufen hatte. Auf Hittes Stirn standen Sorgenfalten. Kurz darauf entfernten sich die Denker von den Menschen, die in die Höhle traten, und begannen eine gedämpfte Unterhaltung.
Sie bewegte sich ein wenig näher an die Gruppe heran und konnte genug Worte auffangen, um ihren Verdacht bestätigt zu sehen. Hitte wusste nicht, wo sie waren. Er hatte geglaubt, weiteren Fallen ausweichen zu können, indem er sich in die natürlichen Tunnel begab, wo mögliche Fallen augenfälliger sein sollten, aber die Tunnel hatten sich nicht, wie er gehofft hatte, wieder mit den von Menschen geschaffenen Wegen vereint. Jetzt fürchtete er, dass sie sich verirrt hatten.
Reivan seufzte und ging weiter. Wenn sie noch mehr mit anhörte, würde sie vielleicht etwas sagen, was sie später bereute. Als sie sich ein gutes Stück von den Denkern entfernt hatte, stellte sie fest, dass die Höhle noch größer war, als sie zuerst geglaubt hatte. Die Geräusche der Armee verklangen hinter ihr, während sie zwischen den Säulen hindurchging, über kleine Erhebungen stieg und durch Pfützen watete. Imenjas Licht hüllte die verschiedenen Bereiche der Höhle entweder in strahlende Helligkeit oder in tintenblaue Schatten. An einer Stelle war der Boden über eine größere Fläche eben und erhob sich dann in geschwungenen Terrassen. Reivan prägte sich alle Öffnungen ein, die sie sah und bei denen es sich möglicherweise um Stollen handelte.
Während sie einen dieser Eingänge in Augenschein nahm, erklang hinter ihr ein tiefes, wortloses Geräusch. Sie erstarrte, sah sich vorsichtig um und fragte sich, ob ihr jemand gefolgt war. Die Stimme wurde lauter und drängender, bis sie sich in ein wütendes Stöhnen verwandelte. War es der Fallensteller? Ein Einheimischer, der auf Rache sann – außerstande, eine ganze Armee anzugreifen, aber sehr wohl bereit, an einzelnen Personen Vergeltung zu üben? Sie keuchte vor Angst und wünschte sich verzweifelt, dass sie sich nicht von den anderen abgesondert hätte oder dass ihre magischen Fähigkeiten nicht so gering gewesen wären, dass sie lediglich einen winzigen, jämmerlichen Funken hervorbringen konnte.
Wenn ihr allerdings jemand in böser Absicht gefolgt war, würde er seine Anwesenheit nicht durch lautes Stöhnen verraten. Sie zwang sich, ruhiger zu atmen. Wenn das, was sie hörte, keine Stimme war, was war es dann?
Als ihr die Antwort auf diese Frage dämmerte, entlockte ihre eigene Dummheit ihr ein lautes Lachen.
Der Wind. Er weht durch diese Tunnel wie Atem durch ein Rohr.
Jetzt, da sie sich darauf konzentrierte, konnte sie eine Bewegung in der Luft wahrnehmen. Sie bückte sich, um die Finger in einer Pfütze zu befeuchten, dann ging sie mit ausgestreckten Händen auf das Geräusch zu. Ein schwacher Windhauch strich über ihre nasse Haut und führte sie zu einer größeren Öffnung an einer Seite der Höhle, wo er sich in eine stärkere Luftströmung verwandelte.
Lächelnd machte sie sich auf den Rückweg zu der Armee.
Zu ihrer Überraschung stellte sie fest, dass sie sich weit von den anderen entfernt hatte. Inzwischen waren alle fünf Marschkolonnen eingetroffen und scharten sich um die Felsformationen. Aber irgendetwas stimmte nicht. Statt Staunen und Überraschung lag Furcht in ihren Zügen. Außerdem waren sie für eine so große Ansammlung von Menschen zu still.
Hatten die Denker ihre Situation verraten? Oder hatten die Götterstimmen beschlossen, der Armee mitzuteilen, dass sie sich verirrt hatten? Als Reivan näher kam, sah sie die vier Götterstimmen auf einem Felsvorsprung stehen. Sie wirkten so gelassen und selbstsicher wie immer. Imenja blickte hinab und sah Reivan in die Augen.
Dann war plötzlich wieder das Stöhnen zu hören. Hier in der Höhle war es schwächer, und es war schwieriger zu erkennen, dass es sich um den Wind handelte. Reivan hörte die Menschen keuchen und Gebete murmeln, und jetzt begriff sie auch, was den Männern und Frauen solche Angst eingejagt hatte. Gleichzeitig sah sie Imenjas Mundwinkel vor Erheiterung zittern.
»Es ist der Aggen! Das Ungeheuer!«, rief jemand.
Reivan schlug die Hand vor den Mund, um ein Lachen zu verbergen, und bemerkte, dass auch die anderen Denker lächelten. Der Rest der Armee schien dieser Idee jedoch Glauben zu schenken. Männer und Frauen scharten sich zusammen, und einige schrien vor Angst auf.
»Er wird uns fressen!«
»Wir sind in seine Höhle eingedrungen!«
Sie seufzte. Jeder hatte die Legende des Aggen gehört, einer gewaltigen Bestie, die angeblich unter diesen Bergen lebte und jeden fraß, der töricht genug war, in die Minen vorzudringen. In den älteren Minen gab es sogar Schnitzereien von dem Ungeheuer mit kleinen Opfernischen darunter – als ließe sich eine Kreatur von solcher Größe mit einer Opfergabe zufriedenstellen, die in einen solch kleinen Raum passte.
Oder als könnte es überhaupt überleben. Kein Geschöpf von so ungeheuren Ausmaßen, wie sie diesem Aggen zugeschrieben wurden, konnte sich von vereinzelten törichten Entdeckern ernähren. Und wenn es dazu in der Lage wäre, müsste es erheblich kleiner sein, als die Legenden behaupteten.
»Volk der Götter.« Imenjas Stimme hallte durch die Höhle, und ihre Worte fanden in der Ferne ein Echo, als jagten sie dem Stöhnen hinterher. »Fürchtet euch nicht. Ich kann keine anderen Geister hier unten wahrnehmen als unsere eigenen. Dieses Geräusch ist nur der Wind. Er strömt durch diese Höhlen wie Atem durch ein Rohr – aber nicht so melodisch«, fügte sie mit einem Lächeln hinzu. »Es gibt hier unten kein anderes Ungeheuer als unsere eigenen Fantasie. Denkt stattdessen an die frische Luft, die dieser Wind mit sich bringt. Ruht euch aus und erfreut euch an den Wundern, die euch umgeben.«
Die Armee war still geworden. Jetzt konnte Reivan Soldaten hören, die das Geräusch nachäfften oder sich über jene lustig machten, die ihre Ängste laut ausgesprochen hatten. Ein Götterdiener trat an Reivan heran.
»Denkerin Reivan? Die Zweite Stimme wünscht, dich zu sprechen«, sagte der Mann.
Reivans Herz setzte einen Schlag aus. Sie eilte hinter dem Mann her. Als sie den Felsvorsprung erreichte, wandten sich die anderen Götterstimmen ihr voller Interesse zu.
»Denkerin Reivan«, begann Imenja. »Hast du einen Weg ins Freie entdeckt?«
»Vielleicht. Ich habe einen Tunnel gefunden, durch den der Wind weht. Dieser Wind könnte von draußen kommen, aber wir werden erst wissen, ob der Tunnel passierbar ist, wenn wir ihn erkundet haben.«
»Dann erkunde ihn«, befahl Imenja. »Nimm zwei Götterdiener mit. Sie werden dir Licht geben und Verbindung mit mir aufnehmen, sollte sich der Tunnel als nützlich erweisen.«
»Ich werde tun, was du sagst, Heilige«, erwiderte Reivan. Sie machte das Zeichen der Götter über ihrer Brust, dann entfernte sie sich. Zwei Götterdiener, ein Mann und eine Frau, traten neben sie. Sie nickte ihnen höflich zu, bevor sie sie wegführte.