Выбрать главу

Der Traumweber blickte zu ihr auf. Sein gequälter Gesichtsausdruck war einer, den sie bei Mirar noch nie gesehen hatte, und er ließ ihn umso eigenartiger wirken. Er musterte sie lange Zeit, bevor er wieder zu sprechen begann.

»Du musst schwören, niemals mit irgendjemandem darüber zu sprechen.«

»Ich schwöre es«, erwiderte sie feierlich.

Er blickte auf seine Hände hinab, und ihre Anspannung wuchs, während sie darauf wartete, dass er von neuem das Wort ergriff.

Erzähl es mir!, dachte sie.

»Die Frau, die ich geliebt habe… die ich liebe…«, sagte er, und seine Stimme war sehr leise. »Es ist… Auraya von den Weißen.«

Auraya von den Weißen! Emerahl starrte ihn an. Ein kalter Schauer überlief sie, als hätte ihr jemand soeben eisiges Wasser über den Kopf gegossen. Der Schock machte ihr das Denken einen Moment lang unmöglich. Eine der Auserwählten der Götter! Kein Wunder, dass Mirar davon nicht angetan war!

Jetzt, da er den Namen preisgegeben hatte, war ein Damm gebrochen, und die ganze Geschichte sprudelte nur so aus ihm heraus: dass er Aurayas Freund und Lehrer gewesen war, als diese noch ein Kind war; dass er nach Jarime gereist war und die Frau, zu der sie geworden war, ihn verzaubert hatte; dass sie ihn zum Traumgeberratgeber der Weißen ernannt hatte. Zu guter Letzt sprach er auch von der Nacht der »Torheit«, bevor sie nach Si aufgebrochen war. Er erzählte ihr von seinem Rücktritt, um ihr Geheimnis zu wahren, von dem wachsenden Einfluss Mirars in seinem Geist und von der Gefahr schrecklicher Konsequenzen, sollte ihre Affäre entdeckt werden. Er offenbarte ihr auch, dass er nicht aufhören konnte, sie in ihren Träumen zu suchen, und er berichtete ihr schuldbewusst von der Wiederaufnahme ihrer Affäre, als Auraya sich der Armee angeschlossen hatte. Dann sprach er von Jurans Entdeckung ihrer Beziehung, von seiner Flucht und von Mirars Vorschlag, ihren gemeinsamen Körper zu übernehmen. Danach hatte er herausgefunden, dass Mirar sich in einem fahrenden Bordell versteckt hatte. Schließlich erzählte er ihr noch von der Traumvernetzung, durch die offenbar geworden war, dass Auraya ihn mit einer Prostituierten gesehen hatte und jetzt glaubte, er habe sie betrogen.

Am Ende seines Berichts angekommen, verfiel er in düsteres Schweigen.

»Ich verstehe«, sagte Emerahl, um überhaupt etwas zu sagen. Sie brauchte Zeit, um diese unglaubliche Geschichte zu überdenken.

»Mirar hatte recht«, erklärte er entschieden. »Ich habe meine Leute in Gefahr gebracht.«

Emerahl breitete die Hände aus. »Du warst verliebt.«

»Das ist keine Entschuldigung.«

»Es ist Entschuldigung genug. Was ich nicht begreife, ist… Auraya muss Mirar in deinem Geist gesehen haben. Das hat sie doch sicher erschreckt.«

»Sie wusste, dass die Netzerinnerungen in meinem Geist sich in einer Persönlichkeit manifestiert hatten, mit der ich gelegentlich Zwiegespräche führte. Sie glaubte nicht, dass Mirar wahrhaft existierte. Sie hat nie miterlebt, dass er die Kontrolle übernahm.«

»Ich kann verstehen, dass sie das glauben wollte. Die Liebe bringt uns dazu, Dinge zu tolerieren, die wir normalerweise nicht ertragen könnten. Juran hätte es gewiss nicht akzeptiert.«

Leiard zuckte die Achseln. »Er hat es akzeptiert, aber vielleicht nur deshalb, weil ich ihm nützlich war und Mirar erst später offenbart hat, dass er imstande war, die Kontrolle zu übernehmen.«

Er hat Mirars Körper offenkundig nicht erkannt, dachte Emerahl. Ist Jurans Erinnerung im Laufe der letzten hundert Jahre so sehr verblasst? Hatte Mirar damals so anders ausgesehen, dass man ihn nicht wiedererkennen konnte? Sie schauderte, als ihr bewusst wurde, wie knapp Mirar einer Entdeckung entkommen war. Die Götter müssen in seinen Geist geschaut haben, vielleicht sogar mehrere Male, und doch haben sie ihn nicht erkannt. Oder… oder sie haben ihn erkannt, machen sich deswegen jedoch keine Sorgen, weil sie wissen, dass Leiard der wahre Besitzer seines Körpers ist.

Trotzdem hätten sie diese Affäre zwischen einer ihrer Auserwählten und einem Traumweber niemals gutgeheißen. Warum hatten sie sie zugelassen? Vielleicht fürchteten sie, Aurayas Vertrauen und Ergebenheit zu verlieren. Vielleicht erwarteten sie ja auch, dass Leiard ihre schlechte Meinung von den Traumwebern bestätigen würde. Wegen Leiards »Betrug« hasste Auraya jetzt möglicherweise alle Traumweber.

Emerahl runzelte die Stirn, als ihr ein anderer Gedanke kam. »Du sagst, sie hätte dich mit einer Prostituierten erwischt, aber Mirar hatte zu der Zeit die Kontrolle. Wenn sie euch in diesem Zustand noch nie beobachtet hatte, hätte sie dich doch gewiss nicht erkannt. Oder vielmehr hätte sie begriffen, dass er die Kontrolle hatte – nicht du.«

Er runzelte die Stirn. »So habe ich das noch gar nicht betrachtet. Es ist… verwirrend.«

»Ja. Ihr müsst einander so ähnlich sein, dass sie euch beide als dieselbe Person erkennt«, sagte Emerahl langsam. »Wenn sie die Chance gehabt hätte, hätte sie vielleicht Unterschiede wahrgenommen, aber in diesem Moment muss sie über das, was du getan hattest, einfach zu schockiert gewesen sein. Vielleicht hat sie den Schluss gezogen, dass sie dich doch nicht so gut kannte, wie sie geglaubt hatte.«

»Ich hätte niemals getan, was er getan hat«, verteidigte sich Leiard.

Emerahl musterte ihn nachdenklich. »Nein. In dieser Hinsicht bist du ganz anders als Mirar.«

»Warum magst du ihn, wenn er so abscheulich ist?«

Sie lachte. »Gerade deshalb mag ich ihn. Er ist ein Halunke, das lässt sich nicht leugnen. Aber auch wenn seine Moral ein wenig fragwürdig ist, ist er dennoch ein guter Mann.« Sie sah ihn mit schmalen Augen an. »Ich denke, das weißt du.«

Er wandte stirnrunzelnd den Blick ab. »Ich weiß, dass er früher… zurückhaltender war, wenn es um Frauen ging. Ich vermute, dass die Zeit ihn verändert hat. Er sucht nach körperlicher Erregung, um sich zu beweisen, dass er noch lebt. Dass er noch immer ein körperliches Wesen ist. Kein Gott.«

Sie sah ihn überrascht an, beunruhigt über das, was er da andeutete. Die Götter hatten Mirar bezichtigt, sich als Gott auszugeben. Jetzt glaubte Leiard, Mirars Verhalten sei darauf zurückzuführen, dass er sich immer wieder davon überzeugen musste, dass er kein Gott war.

»Ich glaube dir, wenn du sagst, dass dir nichts anderes übrigblieb, als dich dem Bordell anzuschließen«, fügte er hinzu. »Du hast die Priester für gefährlicher gehalten, als sie es in Wirklichkeit waren. Außerdem frage ich mich, ob du nicht vielleicht unwissentlich nach der gleichen Art von Selbstbestätigung suchst wie Mirar. Du suchst einen Beweis dafür, dass du ein körperliches Wesen bist und keine Göttin. Die Hurerei…«

»Mirar«, befahl sie. »Die Pause ist vorbei. Komm zurück.« Er erstarrte für einen Moment, dann entspannte er sich. Als sein Blick wieder scharf wurde, lächelte er sie verschlagen an.

»Ich bin ein Halunke, wie?«

Zu ihrer Überraschung stellte sie fest, dass ihr Pulsschlag sich beschleunigte. Nein, das ist keine große Überraschung. Mirar war schon immer in der Lage, mein Blut in Wallung zu bringen. Anscheinend hat sich auch nach all dieser Zeit nichts daran geändert. Oder vielleicht ist es gerade deshalb so, weil so viel Zeit vergangen ist.

Sie konnte jedoch noch immer seine Gefühle wahrnehmen und erkennen, dass er nur kokettierte. Er versuchte, sie daran zu hindern, sich auf ihr eigentliches Ziel zu besinnen – die Lektionen im Abschirmen von Gedanken. Sie setzte eine ernste Miene auf.

»Genug des Geplauders«, sagte sie. »Ich habe nicht die Absicht, für immer in dieser Höhle zu bleiben. Wenn du also nicht hier festsitzen und alles an Insekten essen willst, was den Weg hierherfindet, solltest du dich besser wieder an die Arbeit machen.«

Er ließ die Schultern sinken. »Also gut.«