»Dienernovizin Reivan.« Die Stimme gehörte Imenja. »Hör auf, dir Sorgen zu machen, und komm herein.«
Reivan trat unter dem Bogen hindurch. Imenja saß auf einem Stuhl aus geflochtenem Schilf, ein Glas aromatisiertes Wasser in einer Hand. Sie sah Reivan an und lächelte.
»Zweite Stimme der Götter«, sagte Reivan. »Ich… ich entschuldige mich für meine Verspätung. Ich… ah… ich habe mich…«
Imenjas Lächeln wurde breiter. »Du hast dich verirrt? Du?« Sie kicherte. »Ich kann nicht glauben, dass du – diejenige, die uns aus den Minen geführt hat – dich im Sanktuarium verirren konntest.«
Reivan senkte den Blick, konnte ein Lächeln jedoch nicht ganz unterdrücken. »Ich fürchte, es ist so. Es ist ziemlich … peinlich… Ich frage mich, ob ich mir nicht eine Karte zeichnen sollte.«
Imenja lachte. »Möglicherweise. Nimm Platz, und schenk dir etwas zu trinken ein. Wir werden bald Gesellschaft bekommen, und ich wollte vorher Zeit haben, mit dir zu reden. Hast du dich inzwischen eingelebt?«
Reivan zögerte. »Mehr oder weniger.«
Während Reivan vor den Stuhl neben Imenjas trat, gingen ihr die letzten Wochen noch einmal durch den Sinn. Die Tatsache, dass man sie als Dienernovizin akzeptiert hatte, hatte ihr Ansehen in den Augen der anderen Götterdiener nicht verbessert.
Auf dem Boden entdeckte sie einige Gläser und einen Krug Wasser. Während sie trank, durstig nach ihrem langen Marsch über Treppen und durch Flure, dachte sie an den Ergebenen Nekaun. Seine Worte waren die einzig wirklich freundlichen, die sie bisher gehört hatte.
Sie war seinem Rat gefolgt und hatte so viel wie möglich über die Gruppierungen innerhalb des Sanktuariums und deren Absichten und Hoffnungen in Erfahrung gebracht – größtenteils, indem sie andere Gespräche belauscht hatte. Das war nicht weiter schwierig gewesen, da alle darüber redeten, welcher der Ergebenen Götterdiener zur Ersten Stimme gemacht werden würde.
»Was hältst du von Nekaun?«, fragte Imenja.
Reivan stutzte überrascht, dann erinnerte sie sich an Imenjas Fähigkeit, Gedanken zu lesen. Während der Heimreise hatte sie sich nach und nach daran gewöhnt, dass man ihre Gedanken so leicht lesen konnte. In der Zeit, die seitdem vergangen war, war ihr diese Vorstellung offenkundig wieder fremd geworden.
»Der Ergebene Nekaun scheint nett zu sein«, erwiderte sie. Und er ist auch nett anzusehen, fügte sie im Geiste hinzu.
Imenjas Mundwinkel hoben sich zu einem schiefen Lächeln. »Ja. Und ehrgeizig.«
»Er möchte Erste Stimme werden?« Leise Neugier regte sich in Reivan.
»Das wollen sie alle aus dem einen oder anderen Grund. Sogar jene, die es sich selbst gegenüber nicht eingestehen können. Sogar jene, die davor Angst haben.« Imenja trank einen Schluck Wasser.
»Angst davor, die Erste Stimme zu werden?«
»Ja. Sie fürchten die Verantwortung, die niemals ein Ende nehmen wird. Oder vielleicht auch die Verantwortung, die zu einem unerfreulichen Ende führen könnte – denn genau das ist es, was sein Amt Kuar eingetragen hat. Ihr Verlangen, den Göttern näher zu sein, ringt mit ihrer Furcht vor dem Tod, der sie ebenfalls den Göttern nur näher bringen würde. Seltsam, nicht wahr?«
»Ja.«
»Dann sind da noch jene, die fürchten, die Götter könnten es missbilligen, wenn sie nur von Ehrgeiz getrieben sind. Sie wissen, dass ein Diener der Götter seine eigenen Interessen beiseiteschieben und zu ihrem Nutzen wirken muss, daher reden sie sich ein, dass sie diese Position nicht wollen, obwohl das nicht die Wahrheit ist.«
»Ich habe angenommen, es spielte keine Rolle, was die Götter denken. Die Diener wählen die Erste Stimme unter den Ergebenen, die die Prüfungen ihrer magischen Stärke bestehen.«
Imenja zog die Augenbrauen hoch. »Natürlich spielt die Meinung der Götter eine Rolle. Stell dir vor, jemand würde von den Götterdienern erwählt, aber von den Göttern selbst zurückgewiesen?«
Reivan verzog das Gesicht. »Das ist keine Position, in der ich mich gern wiederfinden würde.«
»In welcher Position würdest du dich denn gern wiederfinden?«, fragte Imenja.
Die Frage überraschte Reivan. Sie breitete die Hände aus. »Ich wollte immer nur eine Dienerin der Götter sein.«
»Warum?«
Reivan öffnete den Mund, um zu antworten, schloss ihn dann aber wieder. Sie war im Begriff gewesen zu sagen: »Um den Göttern zu dienen«, aber sie war sich nicht sicher, ob das der Wahrheit entsprach. Ich bin keine Fanatikerin, dachte sie. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mein Leben opfern würde, ohne eine Erklärung dafür zu erwarten, warum die Götter das von mir verlangen.
Warum habe ich diesen Traum dann so lange gehegt?
Sie hatte die Götterdiener immer bewundert. Ihre Würde, ihre Weisheit. Ihre Magie.
Es kann doch unmöglich nur um Magie gehen. Wenn ich eine Götterdienerin werde, werde ich deshalb keine größeren Fähigkeiten entwickeln. Niemals.
Es musste mehr als das sein. Es war ihr so ungerecht erschienen, dass sie das Kloster, in dem sie aufgewachsen war, hatte verlassen müssen, weil sie keine Götterdienerin werden konnte. Sie wäre gern dort geblieben. Sie war sich so sicher gewesen, dass sie dort hingehörte.
»Es ist die Art zu leben«, antwortete sie langsam. »Wir sind Führer und Lehrer. Wir sind Ordnung in einer chaotischen Welt. Mit Hilfe unserer Zeremonien markieren wir die verschiedenen Etappen im Leben der Menschen und geben ihnen auf diese Weise ein Gefühl für ihren Wert und ihre Zugehörigkeit.«
Imenja lächelte, aber es lag keine Freude in diesem Lächeln. »Du sprichst wie eine Dorfdienerin. Neben diesen Dingen herrschen wir auch und erheben Steuern. Wir sprechen Recht. Wir führen Männer und Frauen in den Krieg.«
Reivan zuckte die Achseln. »Nach allem, was ich gelesen habe, machen wir unsere Sache besser als die alten Könige.«
Die Stimme lachte. »Ja, das ist wahr. Wenn du vorhast, Dorfdienerin zu werden oder in einem Kloster zu arbeiten, verschiebe diese Pläne auf deine späteren Jahre. Ich habe hier und jetzt Verwendung für dich.«
Ein schwacher Stich der Furcht durchzuckte Reivan. »Dann hoffe ich, dass ich mich als so nützlich erweisen werde, wie du es erwartest.«
»Zu guter Letzt wirst du es tun, davon bin ich überzeugt. Ich möchte dich zu meiner Gefährtin machen.«
Einige Sekunden später wurde Reivan bewusst, dass sie Imenja anstarrte, und sie wandte den Blick ab. Ich? Die Gefährtin einer Stimme?
Das bedeutete, dass sie Imenja als Ratgeberin dienen und ihre Aufträge ausführen würde. Jeder, der mit der Zweiten Stimme sprechen wollte, würde Reivans Vermittlung brauchen. Sie würde an die Stelle Thars treten, der im Krieg gefallen war. Thar hatte mächtige Fähigkeiten besessen …
»Ich verfüge über keinerlei Befähigung«, erklärte sie. »Und ich bin erst zweiundzwanzig.«
»Du bist intelligent, und mir gefällt die Art, wie du denkst. Du kannst das Protokoll wahren und andere Sprachen sprechen. Du wirst deine Aufgabe gut machen. Ein Hindernis gilt es jedoch zu überwinden. Es muss so aussehen, als hättest du dir die Position verdient. Nur wenige Menschen haben miterlebt, welche Rolle du für das Entkommen der Armee aus den Minen gespielt hast, und kaum jemand weiß, wie viel wir dir verdanken. Jene, die während des Krieges hiergeblieben sind, sind der Meinung, dass deine Tat es nicht rechtfertigt, eine Regel zu ändern, die seit so langer Zeit besteht, dass sie beinahe ein Gesetz ist.«
Obwohl ihr Herz hämmerte und sie sich so fühlte, als seien ihr alle inneren Organe in die Füße gerutscht, brachte Reivan ein Nicken zustande. »Götterdiener müssen über magische Fähigkeiten verfügen.«
»Lass dich nicht entmutigen. Unter uns Götterdienern finden sich mehr, die bereit sind, dir eine Chance zu geben, als solche, die dagegen sind, und das liegt nicht nur daran, dass ich es so wünsche. Sie werden keinen Protest erheben, wenn ich dich zu den Ritualen mitnehme und deinen Rat suche, geradeso wie ich es mit einem Gefährten tun würde, aber wenn ich es so bald schon offiziell verkünden würde…« Sie schüttelte den Kopf. »Es wird möglicherweise noch viele Monate dauern, bis ich das tun kann. Du bist vollauf in der Lage, sie davon zu überzeugen, dass du der Aufgabe würdig bist, aber wie stehst du zu dieser Herausforderung?«