Reivan nickte langsam. »Wenn ich den Göttern gut dienen will, sollte ich mich besser in eine Position bringen, in der meine Fähigkeiten von Nutzen sein können.«
Imenja lächelte. »Eine gute Antwort. Ah. Pünktlich auf die Minute. Da kommt Shar.«
Als die Fünfte Stimme auf den Balkon trat, setzte Reivans Herz einen Schlag aus. Er mochte diejenige unter den Stimmen sein, die am wenigsten Macht besaß, aber er war mit Abstand der schönste Mann unter den Stimmen. Seine Haut war ungewöhnlich blass, und langes, von der Sonne gebleichtes Haar ergoss sich über seinen Rücken. Der Blick seiner smaragdgrünen Augen fiel zuerst auf Imenja, dann auf sie.
»Meine Damen«, sagte er und verneigte sich.
»Hast du etwas dagegen, wenn Reivan hierbleibt, um mich zu beraten?«, fragte Imenja ihn.
»Ganz und gar nicht.« Er lächelte und verneigte sich abermals. Reivan spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss.
»Ich danke dir, Heiliger«, sagte sie, doch ihre Worte klangen leiser, als sie es beabsichtigt hatte.
»Sind wir die Letzten?«, fragte eine Frau, die Reivan noch nicht erkennen konnte.
Im nächsten Moment traten die beiden anderen Stimmen auf den Balkon heraus. Genza war so dunkel wie die Vögel, die sie züchtete, und hatte auch die gleichen scharfen Gesichtszüge. Vervel dagegen war untersetzt und schien etwa zwanzig Jahre älter zu sein als sie. Beide waren während ihrer sterblichen Jahre Dienerkrieger gewesen, obwohl sie über mächtige Fähigkeiten verfügten.
»Ich fürchte, so ist es«, antwortete Shar.
Genza sah Reivan an und nickte. »Willkommen im Sanktuarium, Reivan Riedschneider.«
Reivans Gesicht fühlte sich jetzt noch wärmer an. Sie murmelte einige Worte des Danks, dann traten zwei Götterdiener ein. Sie erkannte die Gefährten von Genza und Vervel. Die beiden nickten ihr respektvoll zu, und sie erwiderte die Geste.
Als die Neuankömmlinge Platz genommen hatten, löste sich Reivans Selbstbewusstsein schnell auf. In der Gesellschaft sämtlicher Stimmen und ihrer mächtigen Gefährten kam sie sich unwichtig und ein wenig jämmerlich vor. Sie beschloss, so wenig wie möglich zu sagen und sich auf das Zuhören zu konzentrieren. Als wollten sie ihr in diesem Punkt entgegenkommen, begannen die Stimmen ein Gespräch über die Ergebenen Götterdiener, die für eine Wahl zur Ersten Stimme in Frage kamen.
Zu ihrer Überraschung erörterten sie die Vorzüge und Mängel eines jeden Einzelnen mit einer Begeisterung, die beinahe erschreckend war. Kein Aspekt des Charakters der fraglichen Kandidaten blieb ihrer kompromisslosen Analyse verborgen. Sie begriff schnell, warum das wichtig für sie war. Wen auch immer sie wählten, der Betreffende würde ihr Anführer sein. Sie würden vielleicht für Jahrhunderte oder sogar Jahrtausende mit dieser Person zusammenarbeiten.
Ich wüsste gern, warum Imenja nicht in den Rang der Ersten Stimme erhoben werden kann, ging es ihr plötzlich durch den Kopf. In meinen Augen wäre sie eine gute Anführerin.
Nach einiger Zeit erschienen zwei Domestiken mit einem Tablett voller getrockneter Früchte, Nüsse und anderer Delikatessen sowie einem Krug Wasser. Das Gespräch wandte sich weniger wichtigen Themen zu. Reivan schauderte, als eine kühle Brise über ihre Haut strich. Sie blickte über das Balkongeländer und stellte fest, dass die Sonne sehr bald untergehen würde.
»Es hat Proteste gegen die Entscheidung gegeben, den Ritus der Sonne während eines Trauermonats abzuhalten«, bemerkte Vervel leise und mit undurchdringlicher Miene.
Imenja nickte. »Damit hatte ich gerechnet. Wir können von den Paaren nicht verlangen, noch ein Jahr auf die nächste Fruchtbarkeitszeremonie zu warten. Was kann das Herz besser heilen als die Möglichkeit, neues Leben in die Welt zu bringen?«
Die anderen nickten oder zuckten die Achseln. Imenja musterte jeden Einzelnen, dann lächelte sie.
»Ich denke, wir haben für heute genug besprochen. Wollen wir uns morgen wieder hier treffen, wenn das Wetter schön ist?«
Die anderen drei Stimmen nickten.
Imenja erhob sich und strich ihre Roben glatt. »Wir sehen uns dann alle beim Abendessen.« Sie blickte auf Reivan hinab. »Komm mit mir, Reivan. Wir haben viel zu besprechen.«
Als sie sich abwandte, stand Reivan auf und folgte ihr. Während sie nebeneinander hergingen, stellte Imenja Reivan einige Fragen nach ihrem Unterricht. Wenige Minuten später standen sie auf der Schwelle eines großen Raums. Reivan sah sich um und registrierte die schlichten, aber luxuriösen Möbel.
»Das sind meine Gemächer«, erklärte Imenja. »Wenn du meine Gefährtin bist, wirst du deine eigenen Räume nicht weit von hier entfernt zugeteilt bekommen.«
Reivan nickte und dachte an die kleine, dunkle Kammer, die man ihr gegeben hatte, nachdem sie Dienernovizin geworden war. »Darauf freue ich mich schon.«
Die Zweite Stimme kicherte. »Ja. In der Zwischenzeit könnte es nützlich für dich sein, zu erfahren, wie gewöhnliche Priester und Priesterinnen leben.«
Und jetzt weiß ich auch, wie die Stimmen leben, dachte Reivan, während sie sich noch einmal in dem Raum umsah. Was verrät mir dieser Raum über sie? Dass sie mächtig und wohlhabend sind, aber auf eine würdevolle Art und Weise und ohne Protzerei. Vermutlich müssen sie Herrscher, die hierherkommen, beeindrucken und ihr eigenes Volk davon überzeugen, dass sie alles unter Kontrolle haben. Sie musterte Imenja, und ihre bisher unbeantwortete Frage fiel ihr wieder ein.
»Warum macht man dich nicht zur Ersten Stimme?« Imenja lachte. »Mich?« Sie schüttelte den Kopf. »Es gibt viele Gründe dafür, aber am schwersten wiegt die Stärke. Wir brauchen einen Ersatz für Kuar, der über ebenso große oder noch größere magische Macht verfügt, als sie dem Gefallenen zu Gebote stand. Das würde bedeuten, dass die neue Stimme mächtiger wäre als ich, und das ginge nicht an, wenn eine weniger mächtige Stimme über die anderen herrschte, nicht wahr?«
Reivan schüttelte den Kopf. »Vermutlich nicht.«
»Außerdem strebe ich diese Position auch nicht an«, gestand Imenja. »Ich ziehe es vor, in meinen Methoden weniger direkt zu sein.« Sie trat vor einen kleinen Gong. Als sie ihn anschlug, erfüllte ein angenehmes Läuten den Raum. »Jetzt muss ich mich um einige Angelegenheiten kümmern, die ich früher Thar überlassen habe. Bleib hier und hör zu, denn du wirst diese Aufgaben in Kürze übernehmen.«
Reivan folgte der Zweiten Stimme zu einigen Rattansesseln und beschloss, so viel wie möglich zu lernen.
Ich mag nicht über Magie verfügen, aber das wird mich nicht daran hindern, eine gute Gefährtin zu sein, wenn es so weit ist, sagte sie sich.
Mirar schloss die Augen, verlangsamte seine Atmung und ließ sein Bewusstsein zurücktreten, bis es zwischen Schlafen und Wachen schwebte. In diesem Zustand konnte man leicht abgelenkt und verleitet werden, in Träume abzugleiten. Er konzentrierte einen Teil seines Geistes auf sein Ziel. Es war wie das Spiel, das er als Kind gespielt hatte: Eins der Kinder musste mit einer Hand mit einem Baum oder einem Stein in Verbindung bleiben, während es versuchte, die übrigen Kinder zu »töten«, indem es sie berührte. Die anderen liefen dann im Kreis um das eine Kind herum, kamen kurz näher und sprangen sogleich wieder weg. Wenn er das Kind am Baum war, hatte er sich so weit wie möglich gestreckt und nur noch mit einem Finger den Baum berührt…
Der Turmtraum, rief er sich ins Gedächtnis. Ich muss diesen Traum sehen, von dem Emerahl behauptet, es sei meiner.