Als sie zurückkehrte, saß er in meditativer Haltung da. Das war so untypisch für ihn, dass ihr flau wurde und sie sicher war, dass Leiard die Kontrolle übernommen hatte. Als sie ihren Eimer abstellte, öffnete er die Augen, und seine Lippen verzogen sich zu einem verschlagenen Lächeln.
»Was gibt es zum Frühstück?«
Das ist eindeutig Mirar, dachte sie erleichtert.
»Wurzelkekse. Früchte und Nüsse«, antwortete sie. »Schon wieder.«
Wenig beeindruckt schloss er die Augen wieder und vermittelte ihr das Gefühl, entlassen worden zu sein. Außerdem hatte er seinen Geist gut abgeschirmt. Sie konnte nicht einmal erraten, in welcher Stimmung er war.
Ihr Magen knurrte. Sie schälte die Wurzeln, hackte sie zu feinen Würfeln und kochte sie, bis sie weich waren. Dann goss sie sie ab, zerdrückte sie zu einem Brei und machte sich daran, sie zu kleinen runden Keksen zu formen.
»Gestern Nacht habe ich mich an viele Dinge erinnert«, sagte er. »Nachdem du eingeschlafen warst.«
Sie richtete sich auf, um ihn zu betrachten. Er öffnete die Augen. Er sah aus wie ein Fremder, das Gesicht starr von Gefühlen, die sie bei ihm noch nie gesehen hatte. Einmal mehr fragte sie sich, ob sie mit Leiard sprach.
»An was zum Beispiel?«
Er senkte den Blick, aber in seinen Augen lag ein leerer Ausdruck. Er weilt bei seinen Erinnerungen, vermutete sie. Nach seinem Gesichtsausdruck zu schließen, sind es schlimme Erinnerungen.
»Verwirrung. Nachdem man mich in den Trümmern gefunden hatte, bin ich erwacht, als würde ich aus einem tiefen Schlaf auftauchen. Ich wusste nicht, wer ich war, und auch sonst wusste es niemand. Sie haben mich nicht erkannt und vermutet, ich sei einer der gewöhnlichen Traumweber, die beim Einsturz des Traumweberhauses verschüttet worden waren. Mein Körper war vollkommen entstellt. Ich konnte nicht gehen. Ich konnte mich nicht ernähren. Ich war so hässlich, dass man mich versteckte, damit ich Frauen und kleinen Kindern keine Angst machte.« Er sprach leise und ohne Zorn.
Sie schauderte, entsetzt darüber, dass ihr alter Freund so gelitten hatte. Entsetzt darüber, dass der große Mirar zu einem Krüppel ohne Gedächtnis gemacht worden war.
»Meine Heilung hat sehr lange gedauert«, fuhr er fort. »Meine Haare fielen aus, und als sie wieder nachwuchsen, waren sie weiß. Ich konnte sie nicht schneiden, und als ich wieder dazu in der Lage war, konnte ich mich nicht darauf besinnen, warum ich diesen Wunsch überhaupt haben sollte. Sobald meine Beine stark genug waren, um mich zu tragen, floh ich aus Jarime. Ich hatte Angst vor der Stadt, konnte mich aber nicht erinnern, warum. Also humpelte ich von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf und entfernte mich immer weiter von Jarime. Bettelnd und stehlend, an einem Ort mit Barmherzigkeit behandelt, vom anderen weggejagt. Die Art, wie ich lebte, war jämmerlich, und so ging es Jahre und Jahre und Jahre.« Er seufzte. »Aber ich wurde immer stärker. Meine Narben heilten und verschwanden. Während einige Erinnerungen verblassten, kehrten andere zurück. Ich erinnerte mich daran, dass ich ein Traumweber war, aber es dauerte lange, bis ich es wagte, mir ein Wams zu machen oder meine Dienste anzubieten. Ich verweilte länger an jedem Ort, Jahre jetzt, statt bloßer Monate. Die längste Zeit, die ich an einem einzelnen Ort verbrachte, war ein gutes Jahrzehnt, und das war, nachdem…« Er hielt inne, dann verzog er das Gesicht. »Nachdem ich ein kleines Mädchen mit so viel Potenzial gefunden hatte, dass ich nicht anders konnte, als zu bleiben und es zu unterrichten.«
»Auraya«, bemerkte Emerahl.
Er nickte. »Sie hätte eine großartige Traumweberin abgegeben.«
Eine gelinde Überraschung stieg in Emerahl auf. »Meinst du wirklich?«
»Ja. Sie ist intelligent. Mitfühlend. Mit reichen Gaben gesegnet. All die richtigen Merkmale.«
»Bis auf eine gewisse Vorliebe für die Götter.«
Er lächelte kläglich. »Ja. Bis auf das. Einmal mehr durchkreuzten die Götter meine Pläne. Oder zumindest die von Leiard.« Er runzelte die Stirn. »Der Turm in dem Traum ist der Weiße Turm. Es gab ihn damals noch nicht, aber er wurde an der Stelle erbaut, an der das Traumweberhaus gestanden hatte. Ich denke, dass dieser Anblick der Grund dafür war, warum mein Gedächtnis zurückgekehrt ist.«
Emerahl beugte sich vor. »Also, ist Leiard noch da?« »Das weiß ich nicht.« Mirar blickte mit undeutbarer Miene zu ihr auf. »Ich schätze, es wird Zeit, es herauszufinden.«
Sie nickte. »Ich schätze, du hast recht.« Sie hielt inne und beobachtete ihn genau. »Soll ich ihn rufen?«
»Am besten, wir bringen es gleich hinter uns.«
Sie holte tief Luft. »Leiard. Sprich mit mir.«
Seine Augen weiteten sich, und sein Gesicht war mit einem Mal verzerrt. Emerahl sah entsetzt und unwillig zu, wie alle Spuren Mirars verschwanden, um durch eine Maske schierer Angst ersetzt zu werden. Er öffnete den Mund, sog gierig die Luft in sich hinein, dann schlug er die Hände vors Gesicht, und ein gequälter Laut drang über seine Lippen – ein dünner Aufschrei des Schmerzes und der Furcht.
Leiard ist offensichtlich noch da, dachte sie trocken.
Er erhob sich. Sie stand hastig auf und trat näher heran.
»Leiard. Beruhige dich.«
Die Laute, die er von sich gab, erstarben. Er griff sich an den Kopf, als wolle er ihn zerdrücken.
»Eine Lüge«, stieß er hervor. »Eine Lüge – und sie weiß es nicht! Sie weiß nicht, dass das, was sie liebte, eine…« Er presste die Augen fest zu. »Ich bin nicht real.«
Plötzlich riss er die Augen wieder auf und starrte Emerahl an. Er machte zwei Schritte auf sie zu und packte sie an den Schultern. »Aber ich bin real! Wenn ich es nicht wäre, wie wäre es dann möglich, dass ich denken kann? Und fühlen? Wie kann ich nicht real sein?«
Emerahl erwiderte seinen Blick. Er wirkte halb wahnsinnig, halb verzweifelt. Ein Stich des Mitgefühls durchzuckte sie. »Er hat seine Sache zu gut gemacht, als er dich erschuf«, sagte sie.
Er stieß sie von sich. Sie taumelte rückwärts und schlug mit einer Ferse gegen das Bett. Es tat weh, und sie stieß ein unwillkürliches Keuchen aus. Leiard bemerkte es jedoch nicht.
»Warum hat er mir die Fähigkeit der Liebe gegeben?«, zürnte er. »Wie konnte er das überhaupt tun, wo er selbst doch unfähig ist zu lieben?« Er hielt inne, dann fuhr er herum, um sie anklagend anzustarren. »War es das, was er geplant hat? Eine andere Person zu erschaffen und dann zu töten? Ebenso gut hätte er ein Kind zeugen können, um es anschließend zu ermorden.«
Er hat nicht unrecht, dachte sie.
Dann schüttelte sie den Kopf. Leiard war keine reale Person. Er war nie geboren worden. Er war nicht in einer Familie aufgewachsen. Er hatte seine Persönlichkeit nicht im Laufe der Zeit entwickelt, sie war erschaffen worden. Es ergab durchaus einen Sinn, dass Mirar seiner Tarnung eine Identität gegeben hatte, denn anderenfalls hätte ihr der Trieb zur Selbsterhaltung gefehlt.
Plötzlich wandte er sich von ihr ab und ging mit langen Schritten auf den Höhleneingang zu. Ihr Herz hörte auf zu schlagen.
»Leiard!«, rief sie. »Du darfst den Schutz des Leeren…« Er ging weiter. »… Verflucht. Mirar! Komm zurück!«
Er blieb stehen. Sie beobachtete, wie er die Schultern straffte. Dann drehte er sich mit ernster Miene zu ihr um. Es war unmöglich zu sagen, ob ihr Ruf Erfolg gehabt hatte. Zu ihrer Erleichterung kehrte er in die Mitte des Raums zurück.
»Das war nicht angenehm«, murmelte er, als er sich auf das Fußende seines Bettes setzte.
»Mirar?«, fragte sie zaghaft.
»Ja, ich bin es«, bestätigte er. Er streckte sich auf dem Bett aus und runzelte die Stirn. »Also. Was wollen wir als Nächstes probieren, alte Hexe?«
Sie schnaubte, als sie diesen Namen hörte. Die alte Hexe. Herstellerin von Heilmitteln und Wunderkuren für Krankheiten oder schlimme Umstände.