Dann reagierte der Dodge endlich. Er schob sich über die Hinterachse herum wie ein Elefant, der schwerfällig, aber kraftvoll die Richtung wechselt um dem Angriff eines Tigers zu entgehen. Dummerweise brachte er damit Kimberley ins Schussfeld; das war etwas, was ich in der Panik komplett übersehen hatte. Doch dann geschah etwas Seltsames: Der Hüne riss die Pistole hoch, schüttelte verwirrt den Kopf, legte dann noch einmal an und zielte nach unten, auf die Reifen. Offensichtlich wollte er Kim nicht treffen.
Ich zwang die Vorderräder mit einer kräftigen Bewegung in die Geradeausrichtung. Der Dodge schwankte wie ein Betrunkener, der sein Ziel aus den Augen verloren hatte. Das war unsere Rettung. Denn so wurde ihm auch das Glück des Betrunkenen zuteiclass="underline" Der vierte Schuss des Hünen stob als Querschläger davon, ohne irgendwelchen Schaden anzurichten.
Erst dann packten die Räder richtig und katapultierten den Wagen voran. Keine Sekunde zu früh. Die Heckscheibe barst nach einem Treffer und eine Sekunde später grub sich eine Kugel neben mir in das altmodische Armaturenbrett aus der Sorte Nussbaumholz, das jahrzehntelang und mit wachsender Begeisterung von der Automobilindustrie in Mittelklassewagen verbaut worden war.
Doch der Hüne blieb nicht alleine. Eine schmale Gestalt schoss aus den blitzblank polierten Schrottkisten hervor und hielt geradewegs auf uns zu; einen aberwitzigen Augenblick glaubte ich, der Mann wollte unseren Dodge mit purer Körperkraft aufhalten, so zielstrebig rannte er auf uns zu, mit weit ausgestreckten Armen und etwas Unverständliches brüllend.
Ich riss abermals das Steuer herum und der Dodge schlitterte auf einen Chevy zu, touchierte die chromausladende Kühlerschnauze. Metall schrammte auf Metall und irgendetwas versetzte dem Wagen am Heck einen heftigen Stoß. Die hintere rechte Tür wurde durch den Ruck des Aufpralls regelrecht aufgesprengt, flatterte einen irren Moment wie ein Blatt im Wind und knallte bei der nächsten Lenkbewegung wieder in die Scharniere. Sekundenlang kämpfte ich mit dem Wagen, der zu einem bizarren Eigenleben erwacht zu sein schien.
Doch damit nicht genug. Die fürchterliche Zeitspanne, in der die Tür aufgestanden hatte und sich der Wagen zu verkeilen drohte, hatte dem zweiten Angreifer genügt, um mit einem Satz ins Auto zu hechten; ich sah einen dunklen Schemen im Rückspiegel, der mir kurzfristig die Sicht nach hinten versperrte und dann auf dem Rücksitz untertauchte. Es waren fürchterliche Sekunden. Ich drohte den Überblick zu verlieren, ähnlich einer Situation, wie ich sie beim Überholen eines Trucks bei einem Platzregen mehr als einmal erlebt hatte, wenn die von den Rädern hochgewirbelte Gischt über das Dach meines geliebten Chevy hinweggetobt war und mir fast komplett die Sicht genommen hatte. Doch diesmal war es nicht nur eine Gefahr, mit der ich konfrontiert war, sondern zwei Gegner, von denen der gefährlichere ohne Zweifel derjenige war, der mit seinem Kamikaze-Einsatz unseren Wagen geentert hatte.
»Gib endlich Gas!«, schrie eine Stimme hinter mir.
Es war vollkommene Fassungslosigkeit, die über mir zusammenschlug. Die Gestalt hinter mir hatte sich wieder aufgerichtet, und jetzt sah ich ihr, nein, sein Gesicht so deutlich und klar im Rückspiegel, dass ich gar nicht anders konnte, als ihn zu erkennen: Der Schemen hatte die Silhouette meines Bruders Ray und es war ganz eindeutig seine Stimme. Aber ich konnte nicht begreifen, wie er hierhin kam, hier in diese Gegend und noch dazu in unseren Wagen. Es war schlicht und einfach unmöglich!
Doch dann waren wir frei und ich musste mich vollkommen aufs Fahren konzentrieren; der Wagen schoss schlitternd und wieder meinen Lenkbewegungen gehorchend direkt auf die Straße vor uns zu. Mit quietschenden Reifen bog ich in die menschenleere Straße ein, kämpfte ein paar Augenblicke mit dem Heck des Wagens, das in eine andere Richtung als das Vorderteil wollte. Das Letzte, was wir jetzt gebrauchen konnten, war ein Unfall, der uns hier festnagelte und dem Hünen doch noch die Gelegenheit gab zu beenden, was mit der Ermordung des lächerlichen Autoverkäufer-Cowboys seinen blutigen Auftakt genommen hatte.
»Nur weg hier!«, schrie Kimberley. »Sie werden uns nicht so einfach entkommen lassen!«
Sie hatte Recht. Es standen genug Autos auf dem Gelände vom Car Paradise, um eine ganze Armee von Verfolgern mit Fahrzeugen zu versorgen. Und mit Carls mittlerweile bereits angeschlagenem Dodge waren wir wohl kaum in der Lage, einen Vorsprung herauszuholen. Ich warf einen verzweifelten Blick in den Rückspiegel, aber dort war nichts weiter zu erkennen als die kalte Nacht, die sich jetzt ungehindert ins Wageninnere fraß. Ray war wieder verschwunden wie eine Fata Morgana, die sich im wahrsten Sinne des Wortes in warmer Luft auflöst. Entweder war ich im Begriff, vollkommen verrückt zu werden, oder hier geschah etwas, was einer ausführlichen Erklärung bedurfte.
Ich musste meine Aufmerksamkeit wieder der Straße zuwenden. Der Nieselregen begann sich zu einem Unwetter auszuwachsen und der Regen prasselte hart und schwer wie Gewehrfeuer auf den Wagen. Obwohl ich durch den dichten Schleier der Wasserkanonade kaum die Straße erkennen konnte, ließ ich die Scheinwerfer ausgeschaltet. Vielleicht war das die einzige Chance, unseren Verfolgern zu entkommen.
Und dann, wie ein Springteufel, der von einer Feder getrieben hochschnellt, tauchte Ray wieder auf: als schwarzer Schatten im Rückspiegel, der genau wusste, was er wollte. »Dort«, rief er. »Fahr dort in die Einfahrt.«
Ich reagierte fast zu spät. Die Einfahrt, auf die er mich aufmerksam gemacht hatte, war nichts als ein dunkler Schlund wie der eines Wals, der mit einemmal ein ganzes Fischerboot verschlucken konnte. Ich trat so hart auf die Bremse, dass das Heck des Dodge wieder ausbrach. Aber erneut ließ sich der alte Wagen brav in die Spur und anschließend in die Abzweigung zwingen. Mit einem letzten Satz schoss er auf eine kiesbedeckte Auffahrt, die in einer Kurve auf einen Schuppen zuführte; viel zu schnell, um noch rechtzeitig zum Stehen zu kommen. Ich kam mir vor wie der Pilot eines Flugzeugs, der mit zu hoher Geschwindigkeit und zu spät auf der Landebahn aufgesetzt hatte und nun verzweifelt darum kämpfte, die Maschine vor der letzten Begrenzung zum Halten zu bringen. Die Reifen des Dodge quietschten protestierend und der nasse Kies spritzte links und rechts davon. Mit einem üblen Geräusch kam der Wagen schließlich zum Stillstand, kaum einen Meter von dem dunklen Schatten des Schuppens entfernt.
Der Motor erstarb mit einem Stottern und ein paar Sekunden lang war nichts weiter zu hören als das harte Trommeln des Regens auf dem zwanzig Jahre alten Blech des Dodge. Doch dann mischte sich in dieses Geräusch etwas, auf das ich schon die ganze Zeit insgeheim gewartet hatte: das typische dumpfe Brummen langhubiger Straßenkreuzer, die ungesund hoch gedreht wurden. Im Rückspiegel sausten ein, zwei Lichtpunkte hinter uns vorbei, dann folgte das fast schmerzhaft laute Quietschen von Bremsen. Mein Brustkorb verkrampfte sich. Dann hörte ich, wie die Wagen wieder beschleunigten. Ich konnte mir lebhaft vorstellen wie die beiden Fahrer die schweren Straßenkreuzer zurück zur Einfahrt schießen ließen, während ihre Komplizen ihre Waffen entsicherten und mit zusammengekniffenen Gesichtern darauf warteten, dass sie freies Schussfeld bekamen. Offensichtlich war die Idee mit der Einfahrt doch nicht so gut gewesen. Meine Hand tastete nach der Kims.
»Um Gottes willen«, flüsterte sie.
Uns war klar, dass wir keine Chance mehr hatten, wenn sie uns jetzt und hier stellten. Bevor wir auch nur den Wagen verlassen konnten, würden sie auch schon da sein. Und auch mit dem Wagen hatten wir keine Chance, nicht gegen rücksichtslose Männer in modernen Fahrzeugen. Trotzdem ließ ich Kims Hand los und tastete nach dem Zündschlüssel. Ich würde es ihnen nicht leicht machen.