»Bach?«, fragte er, als sich das Schweigen wieder zu Minuten zu dehnen drohte.
Ich nickte stumm. Mir war nicht nach einem Gespräch zu Mute. Ich wollte nichts als den Rest meines Lebens mit angezogenen Knien und aufgestütztem Kinn in dieser Ecke sitzen, mit dem Rücken an der Wand und dem kalten Beton unter mir.
»Sind Sie okay, Loengard?«
Ich starrte ihn an. Mit seiner Brille und seinen gedeckten Beamtenkleidern sah er genauso aus, wie Bach ihn dargestellt hatte. Eine Welle des Hasses überkam mich, Hass auf Marcel, auf Bach und auf mich selbst. Ich hasste Steel dafür, dass er so dumm gewesen war, den Hive in die Hände zu fallen, und mich, dass ich selbst Bach alles in die Hände gespielt hatte, was dieser nun gegen Kimberley zu verwenden drohte, und ich hasste Kimberley dafür, dass sie nicht wieder so war wie vor der unseligen Nacht, in der sie sie sich geholt hatten. Ich hasste sie dafür, dass ich mir selbst die Schuld geben musste, wenn sie den nächsten Tag nicht überleben sollte. Vor meinen Augen verschwamm alles und mein ganzer Körper verkrampfte sich; ich verspürte den unbändigen Drang zu schreien.
»Was hat Bach Ihnen angetan?«, erkundigte sich Marcel vorsichtig, vollkommen ahnungslos, was in mir vorging. Ich schloss die Augen. Ich konnte fühlen, wie sich meine Fingernägel in meine Handballen gegraben hatten, so fest hatte ich beide Hände zu Fäusten geballt. Ich wollte jemanden umbringen, ihm mit bloßen Händen das Rückgrat zerbrechen, als seien seine Knochen aus morschem Holz - und das Schlimmste daran war, ich wusste nicht einmal genau, wer es sein sollte.
»Wollen Sie nicht darüber reden?« Sein Tonfall ließ durchblicken, dass er sich unwohl fühlte, aber er wirkte entschlossen, trotz meines sichtbaren Widerwillens, nicht so leicht aufzugeben. Mein Blick sprang zurück zu seinem verknitterten Gesicht. Mit seinen horngefassten Brillengläsern und den davon vergrößerten Augen erinnerte er an einen Nachtvogel. Ich sah ihn jetzt mit anderen Augen als im Hotel TEXAS, aber ich glaubte auch etwas anderes in ihm zu sehen als das, was Bach mir über ihn hatte einreden wollen. Ich versuchte die Verzweiflung abzuschütteln, die mich so vollständig in ihren Würgegriff genommen hatte. Marcel trug keine Schuld an meinem Elend und ich wollte verdammt sein, ehe ich Bach ein weiteres Mal auf den Leim kroch.
»Er hat mir das Herz aus dem Leib gerissen«, stieß ich hervor, ohne darüber nachzudenken, was ich eigentlich sagte. »Er hat es mir herausgerissen und dann hat er es mir in die Hand gedrückt und mir gesagt, ich solle es gut festhalten, bis er kommt, um es sich zu holen.« Ich legte den Kopf in den Nacken und starrte die Decke an. Ich atmete mehrmals tief ein und mein Blickfeld klärte sich langsam wieder. »Und am Ende wird er noch versuchen, es mir verkehrt herum wieder einzusetzen.«
Marcel konnte damit vermutlich nicht mehr anfangen als ich selbst.
»Immerhin«, sagte er unbeholfen. »Der Bach, den ich gekannt habe, hätte Sie gezwungen, es zu essen.«
Ich war zu verblüfft, um etwas zu sagen. Wir starrten uns an und die Absurdität unseres Wortwechsels wurde mir in ihrem vollen Ausmaß bewusst. Er zwinkerte hinter seinen Brillengläsern, zufällig oder mit Absicht. Ich musste lachen, ein unterdrücktes Lachen, das mir die Kehle zuschnürte, aber als er einstimmte, brach es frei aus mir heraus und nach und nach verlor sich der schrille Unterton der Hysterie und ich konnte so befreit lachen wie schon seit langem nicht mehr. Ich lachte Tränen und vermutlich weinte ich auch. Es ging eine ganze Weile so und die Wache auf dem Gang warf uns ein paar misstrauische Blicke durch die Glasscheibe zu, aber das kümmerte mich herzlich wenig.
Als wir uns wieder beruhigt hatten, wischte ich mir mit dem Ärmel über das Gesicht, stand auf und ging zum Tisch hinüber. Es war, als schmerze jede einzelne Muskelfaser und jede Sehne in meinem Körper. Ich bewegte mich wie ein alter Mann und vermutlich hat Marcel am Ende tatsächlich geglaubt, Bachs Leute hätten mich zusammengeschlagen. Ich konnte ihm nicht sagen, dass keine Prügel der Welt mir so hätten wehtun können wie der womöglich schon verlorene Kampf um Kimberleys Leben.
Stattdessen erzählte ich ihm unsere Geschichte. Er stellte nicht viele Fragen und ich musste ein paarmal innehalten, wenn mich die Erinnerung überkam. Ich ließ eine Menge Dinge aus, aber er war ein guter Zuhörer. Er konnte sich kaum in meine Situation versetzen, aber er begriff genug von dem, was ich unausgesprochen ließ, um betroffen auf seine Hände zu sehen. Auf eine seltsame Art und Weise hatten wir die Rollen getauscht. In Fort Worth war er es gewesen, der gebeichtet hatte, jetzt war die Reihe an mir.
»Ich hätte es besser wissen müssen«, sagte ich, als ich am Ende angekommen war. »Wir waren schon auf der Flucht, bevor Kennedy ermordet wurde. Wir waren gewarnt. Wir hätten weiter nach Süden fahren sollen, nach Mexiko oder bis runter nach Südamerika.« Ich stellte plötzlich fest, dass ich schon seit einiger Zeit wieder auf den Füßen war. Ich muss unzählige Male in dem kleinen Zimmer auf und ab gegangen sein. »Aber ganz gleich, wohin wir uns gewandt hätten, man sieht überall denselben Himmel, nicht wahr?«
Marcel nestelte umständlich eine zerknitterte Zigarettenschachtel aus der Tasche. Es war nicht die Marke, die er in Texas geraucht hatte. Es war Bachs Marke. Ein kurzer Stich des Misstrauens durchzuckte mich. Er zog eine Zigarette heraus und entzündete sie mit seinem Feuerzeug, während er sich nach einem Aschenbecher umsah. Dann bemerkte er meinen Blick.
»Stört es Sie?«, fragte er,.
Ich hielt meinen Blick auf das Feuerzeug in seinen Händen und dachte wieder an Kim. »Ich dachte, Sie wollten es aufgeben«, sagte ich mit merklicher Zurückhaltung.
»Schlechte Gewohnheiten verlieren sich nicht so schnell«, bemerkte er und steckte sein Feuerzeug wieder ein.
»Wie etwa, für die Regierung zu arbeiten?«
Er runzelte die Stirn. »Was haben Sie auf dem Herzen?«, erkundigte er sich. Sein Blick fiel auf die Zigarettenschachtel und er nickte nach einem Moment. Er nahm die Zigarette aus dem Mund und betrachtete nachdenklich den schmalen Streifen schwelenden Tabaks, der die Asche von dem weißen Papier trennte. »Kriegsgefangenen standen von jeher Zigaretten zu«, sagte er zu niemandem im Besonderen. Er hob die linke Hand und drückte die Zigarette mit den Fingern aus. »Sie haben Recht«, sagte er dann zu mir. »Es ist eine schlechte Gewohnheit.«
Ich beschloss, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Nichts von dem, was ich ihm erzählt hatte, konnte für Majestic eine Überraschung darstellen, und ob sich Marcel nun von Bach hatte einspannen lassen oder nicht, der Raum war ohnehin verwanzt und vermutlich hatten sich die ganze Zeit Tonspulen im Nebenraum mitgedreht. Es kam nicht darauf an. Wichtiger war, dass ich wieder einen klaren Kopf bekommen hatte und dass es mir gut tat, meine Sorgen in Worte zu fassen, bevor sie mich innerlich erdrücken konnten.
»Eine abscheuliche Geschichte«, sagte Marcel, als ich mich wieder setzte. Er nahm die Brille ab und rieb sich die Schläfen. »Die ganzen Jahre habe ich geglaubt, dass diese Aliens die Antwort auf all unsere Gebete hätten sein können.« Er schüttelte beklommen den Kopf. »Was mich am meisten erschreckt, ist der Gedanke, dass sie überall sein könnten, in jedem von uns, und wir würden es womöglich nie erkennen, bis es zu spät ist.«
»In der ersten Zeit nach der Implantation finden sich ein paar untrügliche Zeichen, wenn man darauf achtet, aber danach...« Ich breitete die Hände aus. »Kann gut sein, dass es danach fast unmöglich ist ohne eine genaue medizinische Untersuchung.«
»Und diese Grauen, die haben ebenfalls so ein Ganglion in ihren Köpfen?«
»Bach sagt es.« Ich biss mir auf die Lippen. »Falls er die Wahrheit sagt, sind sie womöglich ebenso Opfer wie wir. Falls nicht, ändert das auch nichts - dann sind die Ganglien eine Waffe in den Händen der Grauen und nicht umgekehrt. Wir können die einen nicht von den anderen trennen. Wir können es ja nicht einmal bei Menschen.«