Dann hörte ich ein entferntes Rascheln und plötzlich und ohne Vorwarnung leise Stimmen, die sich so selbstverständlich zu unterhalten schienen, als sei überhaupt nichts Besonderes vorgefallen. »Marcel!«, rief ich erneut. »Was, zum Teufel, geht da vor?«
»Kommen Sie, John«, antwortete er. Seine Stimme klang so gedämpft, dass ich die Worte mehr erriet als wirklich verstand. »Die Agenten sind tot, aber ich habe hier jemand anderen gefunden.«
Ein merkwürdiges Gefühl ergriff mich, eine zaghafte Hoffnung, die sich explosionsartig in meinem Körper ausbreitete und schließlich komplett von mir Besitz ergriff. Ich schob die 38er in meinen Gürtel und jagte mit ein paar Schritten zu der Tür, hinter der Marcel verschwunden war. Die Andeutung in Marcels Stimme verhieß mir, dass ich hier jemand Bekannten treffen würde. Kim?!?
Es war eine unglaubliche Szene. Das Labor war verwüstet und zerstört, als wäre hier eine Herde Nashörner durchgestürmt. Ein paar Schränke waren umgestürzt und überall lagen Unmengen von Glasscherben, in die Instrumente, Spritzen und Laborschalen hineinexplodiert waren, hineingetupft wie die Farbkleckse bunter Blumen in einem Van-Gogh-Gemälde. Das Schlimmste waren die Blutlachen, die grell und abstoßend das Chaos auf dem Boden verklebten, und die drei Männer, die grotesk verrenkt am Boden lagen und so offensichtlich tot waren, wie es Opfer einer mit unglaublicher Brutalität begangenen Gewalttat nur sein konnten. Es war kaum vorstellbar, dass das nur das Werk eines einzelnen Menschen sein sollte, und doch zweifelte ich keinen Augenblick daran, dass es Steel gewesen war, der diese Wahnsinnstat begangen hatte.
Aber Steel war kein Mensch mehr.
Marcel stand im Hintergrund des Raumes, an einer schräg in den Angeln hängenden Tür, die irgendwohin führte, in einen weiteren Raum oder in einen anderen Gang, von dessen Existenz mir nichts bekannt war. Aber das spielte jetzt auch keine Rolle. Es war die Gestalt hinter ihm, verborgen durch die Tür, aufrecht stehend und offensichtlich nur durch Zufall dem brutalen Ausbruch Steels entgangen, die mich interessierte - und sonst nichts. Ich bahnte mir mit entschlossenen Schritten den Weg in den Raum. Glas und Metall knirschte unter meinen Schuhsohlen und fast wäre ich auf den Arm eines der Toten getreten, eines hageren Mannes, der mir flüchtig bekannt war und jetzt mit gebrochenen Augen an mir vorbei zur Decke starrte. Sein Arm stand in unnatürlichem Winkel vom Körper ab und unter ihm sickerte immer noch pulsierendes Blut auf den Boden. Ich spürte, wie sich mein Magen schmerzhaft verkrampfte und irgendetwas Saures würgte meine Kehle hoch. Nur mit Mühe unterdrückte ich den aufkommenden Brechreiz.
Ich umrundete die massive, schmutzigbraune Pritsche, auf der zweifelsohne der halb tote Steel festgeschnallt worden war, bewacht durch drei Männer, die sich offensichtlich zu sicher gefühlt hatten und das mit ihrem Leben hatten bezahlen müssen. Die Luft um mich schien zu flirren und es war wohl nur der Mischung aus meiner Erschöpfung und Erregung zu verdanken, dass ich das grauenvolle Bild der drei brutal totgeschlagenen Agenten zurückdrängen konnte und mich darauf konzentrierte, die letzten Meter zur gegenüberliegenden Tür zurückzulegen.
Dann erkannte ich die Gestalt, die neben Marcel stand. Es war nicht Kim, es war mein Bruder Ray. Mit Herzklopfen und einem trockenen Gefühl im Mund ging ich ihm entgegen. Auf dem Weg zu ihm schien die Luft immer kälter zu werden. Ray sah grauenvoll aus; dunkle, fast schwarze Ränder zeichneten sich unter seinen Augen ab, das Gesicht war eingefallen und blass wie das eines Schwerkranken. Die Art, wie er mich ansah, hatte etwas Erschreckendes. Es lag so viel Trauer in seinem Blick, dass ich ihm fast nicht standhalten konnte. Ich konnte mich nicht daran erinnern, meinen robusten Bruder Ray jemals zuvor in einem solchen Zustand gesehen zu haben.
Ray versuchte zu lächeln, aber es gelang ihm nicht. Ein schmaler, vertrockneter Blutstreifen war von der Nase sein Kinn hinabgeronnen und hatte sich in den Bartstoppeln verfangen, die deutlich sichtbar zeigten, dass wir heute Morgen alle nicht zum Rasieren gekommen waren. Ich erinnerte mich daran, dass Rays Bartwuchs schon immer kräftiger als meiner gewesen war. Als Jugendlicher hatte ich ihn darum beneidet, als Erwachsener fand ich es nur lästig.
»Wo ist Kim?«, fragte ich und meine Stimme klang scharf und schneidend wie die eines Unteroffiziers, der nachhakt, weil an der Uniform eines Untergebenen ein Knopf fehlt.
»Ich... ich weiß nicht«, sagte Ray schwach. Er gab ein lautes, stöhnendes Geräusch von sich und sein Kinn ruckte nach unten, als hätte es jede Kraft verloren. Benommen schüttelte er den Kopf und richtete dann wieder den Blick auf mich. In seinen glasigen Augen war jedes Feuer erloschen.
»Ich will alles wissen, was du über Kims Unterbringung weißt«, fuhr ich ihn an und hasste mich für den brutalen Klang meiner Stimme, aber ich hatte jede Geduld verloren. »Albano hat euch doch beide zusammen weggebracht, als Bach mit mir sprechen wollte.«
»Ich hab’ keine Ahnung«, stammelte Ray. Doch dann klärte sich sein Blick etwas und er schüttelte erst den Kopf und nickte dann wieder. »Stimmt nicht. Dieser Typ... Albano?... hat zu dem anderen Typen gesagt, er solle Kim zu einem gewissen Kalligan...«
»Halligen«, korrigierte ich ihn, ohne auf Marcel zu achten, der mich verständnislos durch seine Hornbrille anblinzelte.
»Ja«, wieder nickte Ray. »Er sollte sie zu einem gewissen Halligen bringen, und hat dann dem zweiten Mann befohlen, mich ein Stock tiefer abzuliefern. Dann hat sich dieser Albano verdrückt.«
»Okay«, sagte ich bitter. Es machte Sinn. Einen Stock höher befanden sich einige wenige reguläre Labors und es war keine Frage, dass man Kim und Steel nicht auf dem gleichen Stockwerk oder sogar im selben Raum unterbringen würde. Trotzdem fragte ich mich, warum man Ray hierhin gebracht hatte, in die unmittelbare Umgebung von Steel - oder was von ihm übrig geblieben war. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen. Aber im Grunde genommen war es auch vollkommen nebensächlich. Ich hatte eine Spur von Kim, und das musste genügen. Vielleicht lief ich ja bei der Suche nach ihr sogar Steel über den Weg. Es war dann allerdings nur die Frage, wer damit zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen würde.
Ray war benommen und in einem so erbärmlichen Zustand, wie ich es noch nie bei ihm erlebt hatte. Doch er erholte sich erstaunlich rasch. Ich nötigte ihn dazu, sich die 38er des toten hageren Majestic-Agenten in den Hosenbund zu stecken - mit Steel war nicht zu spaßen und ich hatte keine Ahnung, was uns hier sonst noch alles erwarten würde. Denn irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht. Es hätte hier mittlerweile von Agenten wimmeln müssen, angelockt von der Alarmsirene und den Kampfgeräuschen. Doch stattdessen herrschte eine fast gespenstische Stille, in der das leise Säuseln der gerade wieder angelaufenen Lüftungsanlage das einzige konstante Geräusch war, unterbrochen nur von unseren Schritten, die leer und hohl von den Gangwänden widerhallten.
Es beruhigte mich durchaus, dass die Lüftung wieder funktionierte, schließlich würde die Luft hier unten ohne sie sehr schnell schal und verbraucht werden. Das änderte allerdings nichts daran, dass meine innere Anspannung in den letzten Minuten eher noch zugenommen hatte. Doch dass die Lüftungsanlage einen Geruch mittrug, der entfernt an eine Mischung zwischen Rosenduft und Marzipan erinnerte, bemerkte ich erst, als wir das Treppenhaus erreicht hatten und uns mit schussbereiten Waffen vorsichtig und langsam durch das Halbdunkel vortasteten. Denn auch hier hing dieser penetrante Geruch in der Luft. Zuvor hatte ich wie selbstverständlich angenommen, dass er von den zerbrochenen Fläschchen in dem zerstörten Labor stammte.
Die schwere Eisentür zum nächsten Stockwerk ging zum Treppenhaus hinaus auf, logisch für denjenigen, der Fluchtwege plante, ungünstig für Leute wie uns, die möglichst rasch und unbemerkt von außen in ein Stockwerk eindringen wollten. Marcel gab mir mit einem Kopfnicken zu verstehen, dass ich vorgehen sollte, während er mir Feuerschutz geben würde. Bei einer anderen Situation wäre ich mir vollkommen lächerlich vorgekommen, als Karikatur eines Polizisten mit gezogener Waffe in einen Gebäudeteil eindringen zu wollen, in dem ich mich bislang immer wie selbstverständlich und ohne Furcht bewegt hatte. Doch jetzt lief mir nur Angstschweiß den Nacken runter.